Zwanghaft frei!?

Über die Leugnung von Binsenweisheiten, was krank machen kann

Fotografiert von Rolf Römer©

Von Hendrik Heidler

Womöglich macht des Menschen Einzigartigkeit seine Fähigkeit aus, sich etwas vorzumachen, von dem er zwar weiß, was ihm aber verdrängenswert erscheint. 

Solche Meisterleistungen lassen sich überall leicht finden, doch scheint mir die Mär von einer nahezu absoluten individuellen Freiheit die fatalste.
Überraschend lässt sich dabei beobachten, wie sehr sich zwei äußerst unterschiedlich wirkende Bevölkerungsgruppen doch in diesem Punkt ähneln, wie es politisch-philosophische und alternativ-spirituelle Kreise zeigen. Sie meinen ausschließlich das einzelne Individuum sei absolut für sein Schicksal verantwortlich. Gesellschaftliche Einbettungen werden nur soweit zugelassen, um sich darin als Sieger hervor zu tun. Wie sehr dabei natürliche und gesellschaftliche Formen gleich gesetzt werden, zeigt sich in der Annahme, beispielsweise Geld beim Universum bestellen zu können. Aber auch die Verurteilung finanziell armer Menschen als Versager offenbart diese Haltung, dass angeblich jeder auf Erden erfolgreich, schön und finanzstark werden könne, wenn er nur wolle. Nur wird dabei gerade die hochgerühmte Konkurrenz als grundsätzlicher Hinderungsgrund übersehen, weil diese nun einmal nicht allein Sieger hervorbringen, sondern auch Verlierer braucht ... sonst könnte es ja gar keine Sieger geben. 

Trotzdem wird so getan, als ob jeder erfolgreich sein kann. Es braucht halt eine Rechtfertigung, um die eigene Lebensfinanzierung auf Kosten anderer seelisch aushalten zu können. Also wird sich der eigene Erfolg, als garantiert nur der persönlichen und natürlich ehrlichen Leistung geschuldet, zurechtgeredet. Dass aber selbst betriebswirtschaftlich betrachtet, also unter finanziellen Lebenssicherungszwängen, alles nur ein Null-Summen-Spiel ist, hat angeblich und schöngeredet damit gar nichts zu tun.

(„Null-Summen-Spiel“ beschreibt die Tatsache, dass es nur eine begrenzte Wert- bzw. Geldmenge gibt bzw. geben kann, um die sich derzeit alle Menschen mittels Konkurrenz als eines der Grundprinzipien dieser Daseinsweise rangeln müssen; logisch, wenn dabei viele leer ausgehen müssen. Es kann sich leicht ausgerechnet werden, wenn das Geld an Wert verliert, wie sich das auf den Kampf um Geldbesitz auswirkt: die Konkurrenz wird als Kampf zur Vernichtung der Gegner geführt, was letztlich alle Anderen sind. Die Kriege im Nahen Osten haben ebenso etwas mit dieser Vernichtungskonkurrenz zu tun, wie die Flüchtlingsfeindlichkeit oder das Mobben bzw. Chef-in-den-Arsch-kriechen an Arbeitsplätzen.
Der Verfall an Wert als offenbarendes Zeichen eines grundsätzlichen Systemzusammenbruchs wird leider geleugnet, weil ja dieses „wunderbare“ kapitalistische Dasein ewiges Leben habe. Das ist nicht nur peinlich, sondern auch höchst gefährlich, da infolge dessen an der eigentlichen Ursache für Krieg, Krankheit und Sinnlosigkeiten festgehalten wird. Daraus ergibt sich dann die Notwendigkeit, zumeist Unterlegene, Kritiker, Krankheitssymptome, schwächere Staaten usw. zu bekämpfen. Aber auch das wird mit dem geheiligen Wettbewerb begründet, zu gut deutsch: „Selber Schuld, wenn Du zu blöd zum Siegen bist.“)

Das Geld in der Tasche des einen sind demzufolge notwendigerweise die Schulden in der vieler anderen. So ist das nun einmal in den vergangenen Jahrhunderten von uns Mneschen (ziemlich brutal) eingerichtet worden, auch wenn das gern vergessen und die heute daraus gewordene Lebens- und Wirtschaftsweise als ganz naturgesetzlich zurechtgeträumt wird; was als Begründung nun auch wieder logisch, sonst würden viele begreifen: was von menschen geschaffen wurde, kann auch von Menschen beseitigt und verändert werden. Dazu braucht weder Gott, Kaiser noch Tribun, sondern bewusstes, gemeinsames und lebenszugewandtes Handeln der leidenden Mehrheit.
Wenn einige hundert finanziell reiche Personen ebenso viel an Werten besitzen wie 50 Prozent der gesamten Menschheit, dann sollte eigentlich auch das einfachste Gemüt begreifen, wie unmöglich es sein muss, allen Menschen durch Geldbesitz eine Bedürfnisbefriedigung ermöglichen zu können. Dabei wäre es jedoch falsch anzunehmen, das solch enormer finanzieller Reichtum nur auf böswilliger Gier von verkommenen Einzelpersonen beruht. Auch diese unterliegen dem Zwang der Geldvermehrung, und wenn sie diesem nicht genügen, gerät auch deren Existenz in Gefahr. 
Offensichtlich beherrscht kein Mensch dieses System wirklich - auch nicht die Superreichen bzw. Supermächtigen - sondern alle sind diesem Geldvermehrungs- und Arbeitsverwertungszwang unterworfen, indem sie ihn gemeinsam als unabänderlich betrachten. Trotzdem gibt es einen Unterschied, zwischen denen, die fanatisch diese Geldvermehrung betreiben und denen, die dafür bis aufs Blut ausgesaugt werden. Wozu ich berchtigterweise auch die meisten Leidenden, Kranken und Sterbenden im Alltag und z. B. in den Krankenhäusern und Altersheimen Deutschlands und den anderen Industrienationen zähle. 
Bei näherer Betrachtung offenbaren sich die meisten körperlichen und psychischen Erkrankungen als ursächlich Folge der kapitalistischen lebens- und Produktionsweise - die ja nicht am Werktor endet, sondern 24 Stunden täglich unser Dasein ausmacht.

Natürlich folgt aus vorstehend Beschriebenen das Gegenteil an Freiheit: der gnadenlos alltägliche Zwang, das eigene Leben mit seinen Bedürfnissen bezahlen zu müssen. Entgegen aller Beschönigungen beherrschen wir eben nicht das Geld, wenn wir dafür ein Brot kaufen, sondern die Notwendigkeit Geld zu besitzen, um Essen zu können, macht uns zum Sklaven dieser unserer eigenen Schöpfung. Damit ist es keine willentliche, individuelle Entscheidung, Geld für Nahrung auszugeben, sondern existenzieller Zwang. Aber ist das die vielgerühmte, individuelle Gestaltungsfreiheit?

Das wäre ja so, als bräuchte ich nur zum Bäcker zu gehen, ein bisschen positiv zu denken und schon fliegt das Brot am Bäcker vorbei in meinen Einkaufskorb. Und der Bäcker denkt auch etwas positiv dabei und schon füllt sich sein Konto mit Geld und er kann neben Mehl und anderen Zutaten sogar noch alle seinen privaten Lebensbedürfnisse bezahlen ... ohne einen Finger dafür krumm gemacht zu haben, weil sich dann, ach dieser Irrlehre auch das Brot selbst bäckt.

Seltsam, und dabei weiß jeder, sogar leider schon mein dreijähriges Söhnchen, dass nur der essen darf, der es bezahlen kann. Gleichfalls weiß jeder, dass selbst dann, wenn Menschen verdursten, unrentable Wasserwerke geschlossen werden. Und dass, obwohl alles da ist, den Durst zu stillen, wie Fachleute, Wasser, Anlagen, Verteilungssysteme und Know how. Ist das Freiheit, wenn natürliche Bedürfnisse weniger wert sind, als rentable Zahlen?

Die Frage kann sich jeder selbst beantworten. Aber gerade deshalb überrascht es, weshalb nicht der einzig logische Schluss gezogen wird: Sich zusammenzutun, um miteinander die Wasserwerke, Bäckereien usw. zu betreiben, ohne das es dabei um finanzielle Rentabilität geht, sondern um die Stillung unserer natürlichen Lebensbedürfnisse. Diese Verdrängung des Offensichtlichen und auch unserer menschlichen Natur am Entsprechendsten ist eine wahrliche Meisterleistung der Verdrängung.
Anders kann das nicht bezeichnet werden, wenn natürliche Bedürfnisse ungestillt bleiben müssen, häufig bis zum Tode hin, obwohl sie gestillt werden könnten, aber der Besitz an finanziellen Mitteln - tote Dinge also - dem entgegen steht.

Damit wird Tod wichtiger als Leben ... was weltweit zu erleben ist, aber nicht gesehen werden will.

Nachbemerkung: 

Weil sich dieses Problem aus unser aller Lebensweise ergibt, ist es gemeinschaftlich und bewusst zu überwinden. Allein aussteigen zu wollen, ist daher eine ebensolche Illusion, wie allein ganz und gar frei zu sein. Das ist eine schmerzliche Erkenntnis, weil damit die gegenwärtige Notwendigkeit auch für Kritiker dieses Irrsinns besteht, das eigene Leben mit Geld finanzieren zu müssen. Das lässt sich wohl dauerhaft nur aushalten, wenn der Ausweg in der genannt gemeinsamen Überwindung dieser menschen- und lebensfeindlichen Daseinsweise für möglich gehalten wird ... und diese wird u. a. ohne menschenverwertende Arbeit ebenso auskommen müssen wie ohne Wert und Geld, weil beispielsweise nicht die Art und Weise des Geldgebrauchs das Problem ist, sondern Geldbesitz an sich als Voraussetzung zur Bedürfnisbefriedigung.

Es steht die Aufgabe als Menschheit hat, den Sprung aus der kapitalistischen Zumutung zu wagen, auch auf die Gefahr hin, dass er daneben geht. Das erschrickt, aber wenn bedacht wird, wie sicher es daneben gehen wird, wenn wir so weiter machen, wie bisher, ist es dieser Sprung die angenehmere, weil heilungsorientierte Lösung!

Jede Kuh mit Verstand begabt, würde schreiend davon laufen, wenn sie den Zumutungen ausgeliefert wäre, wie wir sie täglich „freiwillig“ auf uns nehmen.