Wenn der Tod als Erlösung erscheint
Depression – Verwechslung von Sterben und Leben

Die „Kanadische Goldrute“, fotografiert von Hendrik Heidler©
Von Hendrik Heidler
„Aha, Depression, endlich weiß ich, was ich habe!“ Wirklich? Jedenfalls folgen dann entsprechend der Begriffsbestimmung ziemlich eingespielte Behandlungsabläufe. Ziel ist es dabei, wieder zu funktionieren, also, um es knapp auszudrücken: „Es soll endlich wieder so sein, wie vorher.“ Ein sehr verständlicher Wunsch, und doch sei die Frage gestellt, ob das überhaupt gehen kann.
Depression, als Sehnsucht nach Veränderung, ohne etwas zu verändern.
Als griffiges Beispiel sei Schwangerschaft und Geburt genommen. Das Kind ist reif, die Wehen drücken, das es schmerzt, es sehnt sich danach herauszukommen und ist bereits ein Stück des Weges voran gekommen. Aber jetzt, gerade mitten im dunklen Geburtskanal schreckt es zurück, hat Angst vor dem Neuen, vor dem was kommt. Dabei wird es von einer falschen Hebamme kräftig unterstützt. Sie drückt es mit aller Gewalt in den Bauch zurück. Damit der unsinnige Schmerz ausgehalten wird, bekommt es kräftige Medikamente, bis es wieder drinn ist, im alten, gewohnten Umfeld. Aber so schön, wie es früher war, will es einfach nicht mehr werden. Immer wieder keimt die Sehnsucht auf, hinauszuwollen und immer wieder wird davor zurückgeschreckt. Das ist aufreibend und kräftezehrend. Hilfsmittel werden ausprobiert, das Leiden im Alten doch irgendwie schön zu machen und immer wieder ist diese Hebamme zur Stelle, die dabei behilflich ist, drinnen zu bleiben oder, wenn bereits der Duft der neuen, weiten Welt angstvoll geschnuppert wurde, gewaltsam zurückzukehren. Schließlich wird das Hin und Her so quallvoll, die Not in der engen Dunkelheit des Geburtskanales so unerträglich, wie auch die nicht mehr auszuhaltende alte Umgebung im Bauch, dass entweder alles auf eine Karte gesetzt wird, sehr zum Leidwesen dieser vermeintlichen Hebamme, und heraus gesprungen wird, um endlich, endlich schreiend die Luft der nun so weiten Welt frei in die Lungen strömen zu lassen. Oder es wird alle Sehnsucht nach Draußen aufgegeben, und dieser Hebamme erlaubt, hier und da ein Stückchen von sich abzuschneiden, um ja wieder in der alten, engen aber eben gewohnten Welt zu passen. Um das auszuhalten gibt es starke Mittelchen, wie auch einflüsterndes Zureden, wie gut und sinnvoll es doch sei, diese Torturen auszuhalten. Es ist, als würde einem flüggen Kücken weisgemacht, es könne nur Huhn werden, wenn es im Ei bliebe und die zunehmenden Leiden aushielte. Die seien halt normal auf dieser beschissenen Welt.
Nichts anderes geschieht zumeist bei so genannten Depressionen und im alltäglichen Umgang damit. Allgemein beschrieben, erlebe ich Depressionen als widersprüchlichen Heilungsversuch anstehender, aber aus welchen Gründen auch immer verweigerter und ganz natürlicher Wandlungs- und Reifungsprozesse.
Dabei geschieht zumeist folgendes: Einerseits wächst die Sehnsucht, in den neuen, anstehenden Lebenskreis hineinzugehen, andererseits wird davor zurückgeschreckt, weil das Alte nicht verlassen werden will. Man ahnt, bei erfolgreicher Wandlung eben nicht mehr zum Alten dazuzugehören, womöglich neue Wege beschreiten zu müssen, alte Freund- oder Partnerschaften ebenso verlieren zu können, wie ungeliebte Arbeiten. Auch schreckt man vor Auffälligkeiten zurück, die mit neuen Sichtweisen, Kleidern und Handlungen auftreten mögen.
Neue Wege machen natürlich Angst, weil sie nicht mehr wie gewohnte beschritten werden können und so völlig unbekannt erscheinen. Da wird häufig das gewohnte Leiden, dem neuen Heilsein vorgezogen. Es hat ja auch sein Gutes. Was durchaus verständlich ist und die berechtigte Frage auftauchen lässt: „Wie soll ich das Anstehende nur schaffen?“
Ja, und dann, wie im obigen Beispiel der Geburt, wird das Leiden so groß, dass der biologische Tod als Lösung ersehnt wird. Freilich kann es sein, dass mitunter wirkliches Sterben Teil der Heilung ist. Aber zumeist erlebe ich es anders. Es gibt weder medizinisch, psychologisch noch gesellschaftlich-kulturell ein Verständnis dafür, dass Wandlungsschmerzen Teil von Wachstum und Geburt sein können, vielleicht sogar müssen. Entgegen dem wird aber ganz gleichmacherisch mit allen Mitteln gegen diese angekämpft, als seien sie gemeine Krankheitsschmerzen. Was natürlich den Widerspruch zwischen Festhalten am Alten und der Sehnsucht nach Neuem zum Wahnsinn treiben kann. Dabei wird übersehen, wie sehr psychische Leiden und auch körperliche Erkrankungen Ausdruck von einem gut vorangekommenen Reifeprozess sein können. Die Kraft ist zwar da, die Wandlung zu vollenden, kann aber bei Festhalten an veralteten Zuständen und Rahmenbedingungen einfach nicht fließen; also drückt sie gegen das Alte, wodurch die Leiden eigentlich entstehen. Es sind die Leiden des Heilwiderstandes. Denn, auch Altes will sich erhalten und es bedarf kraftvoller Bereitschaft, dieses zu erlösen.
Doch anstatt die engen Hüllen zu öffnen, werden diese medizinisch bzw. psychologisch verfestigt. Schuld, schlechtes Gewissen und Versagensgefühle kommen hinzu, ebenso wie die Angst verzweifelt als Gegnerin bekämpft wird, obwohl all das energetische Zustände sind und keine moralischen Kategorien. Alles zusammen steigert die Not schier unerträglich; was zu verstehen ist, weil dabei wirklich Todesängste auftreten können. Dem endlich zu entgehen, kann hilfloserweise der Tod als süßerer Ausweg erscheinen, als das bevorstehende, unbekannte Leben jenseits dieser gewohnten, erdrückenden Hüllen. Es scheint dann nur noch die Frage der vermeintlichen biologischen Todessehnsucht anzustehen, obwohl diese Sehnsucht nach Tod einmal davon losgelöst als Sehnsucht nach Sterbenlassen von alten Daseinsweisen, alten Lebenskreisen betrachtet werden sollte; die wie eine alte Schlangenhaut zu sprengen sind und nicht immer und immer wieder versucht werden, zusammenzuflicken. Diese Todessehnsucht ist eigentlich Ausdruck einer tiefen Sehnsucht nach unbeschränkter Lebendigkeit. Wie verständlich ist es aber bei Verhinderung des Lebens, wenn die Schmerzen der verweigerten Geburt so unerträglich werden, dass der biologische Tod eben als Erlösung erscheint, obwohl es dabei gar nicht um ihn gehen mag. Jede Schlange würde irgendwann lieber sterben wollen als in ihrer alten Haut dauerhaft stecken bleiben zu müssen.
Es ist als ein tatsächliches Wunder zu sehen, weshalb wir „modernen“ Menschen diesen einfachen Zusammenhang tapfer und mit Antidepressiva, unendlichen psychotherapeutischen Klinikaufenthalten, bis hin zum Selbstmord als Flucht vor der Wandlung in neue Lebensfreiheiten hinein verleugnen.
Aus meiner Sicht findet sich die Ursache für diese grausame Dummheit in der gesellschaftlichen Notwendigkeit, verhinderte, bloß funktionierende Menschen zu brauchen, damit diese in einem jahrzehntelang schleichenden Selbsttötungsprozess sich in Geld verwandeln lassen. (Aus dieser Sinnlosigkeit heraus erklärt sich auch die paradoxe Bereitschaft vieler Menschen, ihr Leben zu opfern, um es zu erhalten; wie sie auch in Chemotherapien, Arbeitswahn, Selbstmordattentaten und Amokläufen zum Ausdruck kommt.)
Lebendige, selbstbewusste Menschen würden diese unfassbare Zumutung verweigern. Und falls sie es allein nicht schaffen könnten, versuchten sie es gemeinsam.
Geheilte Depressionen, sprich vollendete Reife- und Wandlungsprozesse sind schlicht eine Gefahr für das kapitalistische Verwertungssystem, das keine freien, gesunden und originellen Menschen in ihrer ganzen Einzigartigkeit aushält.
Darin liegt der „vorsätzliche“ Wesensgrund einer ganzen Gesundheits- und Medienindustrie, viele Menschen zurecht, also totkrank zu therapieren - anstatt zu heilen.
Klar ausgedrückt ist es nicht Ziel, Menschen ganz zu machen, sondern gerade das zu verhindern. Mögliche Heilungen ergeben sich eher unerwartet bzw. sind Folge von Ausnahmen.
Zusammenfassung
Depressionen sind Anzeigen für steckengebliebene Reife- und Wandlungsprozesse. Diese zu verhindern lässt die Sehnsucht nach Leben ins Gegenteil kippen und den biologischen Tod als Erlösung anstreben. Dabei geht es aber um den Tod nur untauglich gewordener, alter Lebenkreise und gar NICHT um den biologischen Tod. Das Licht des Lebens findet sich hinter der Finsternis und nicht mehr am Anfang des Tunnels. Wer würde schon glauben, dass eine Blüte ihr Heil wieder im Zurückstopfen in die Knospe fände, anstatt im Tragen von der Frucht? Niemand! Aber mit uns Menschen machen wir genau das.
Wenn wir erblühen wollen, Früchte tragen möchten, uns nach Entfaltung und Lebendigkeit sehnen, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als bereit zu sein, immer und immer wieder das Alte sterben zu lassen, um neu geboren werden zu können. Das zu verhindern führt näher an den biologischen Tod heran, der ja eigentlich vermieden werden wollte, aber nun als verzweifelte Erlösung von unerträglichem Leiden ins Auge gefasst wird.
Veraltetes sterben zu lassen belebt. Aber Veraltetes zu erhalten, tötet ab.
Daher ist der erste Schritt zur Heilung, die gedankliche Fehldeutung von biologischem Sterben und Sterbenlassen nur alter Zustände in Klarheit aufzulösen. Dann ist der Weg frei, wieder ins Leben hineinzuschreiten. Ob das gelingt ist ein Geheimnis, weil es in der Natur der Sache liegt, erst geboren werden zu müssen, ehe die neue Welt erlebt werden kann. Anders geht es nun einmal nicht. Aber was gewiss ist, sind die Leiden, wenn im Veralteten geblieben wird, wie das Beispiel von dieser falschen Hebamme zeigt und wie ich sie oben beschrieben habe. Keine wirkliche Hebamme käme auf diese verrückte Idee, ein Kind zurückzustopfen, aber unsere „moderne“ Weltsicht, samt Schulmedizin und Psychologie sieht gerade darin ihr Selbstverständnis.
Ich nehme an, dass unzählige Menschen noch leben könnten, wenn deren natürliche Wandlungsprozesse nicht als äußerliche Gegner fehlgedeutet und medizinisch-psychologisch unterbrochen und verhindert worden wären.
Es geht um Selbstermächtigung, sich davon zu lösen, sich nicht mehr quälend zurückzustopfen, nur weil es Autoritäten sagen oder es erst einmal chemisch angenehmer auszuhalten sein mag, als unter Schmerzen geboren zu werden. Diese mutige Entscheidung kann niemanden abgenommen werden. Sie kann nur von jeden selbst getroffen werden, doch gibt es dafür Möglichkeiten der Unterstützung und Begleitung jenseits aller blindwütiger Zurückstopferei.