Der gute alte Zweifel

Wer Augen hat, der schaue ...

Fotografiert von Roger Mattle©

Von Hendrik Heidler

Zweifel sind so eine Sache. Meistens wird empfohlen, ganz darauf zu verzichten. Zweifel seien schlecht, heißt es, man müsse nur recht glauben. Nun ja, etwas zweifelsfrei zu machen, ist wirklich leichter gesagt als getan. Doch, könnte es nicht sein, dass Zweifel sogar etwas nützliches sind? 

Ach ja, da fällt mir noch etwas ein: Neue Wege zu gehen, lässt sich ebenfalls leicht dahersagen. Aber wie oft zeigt sich das Alte, nur in neuem Gewand? Das besteht dann aus garantiert wahren Wahrheiten. Eine davon ist die, einfach nur positiv zu denken. Eine andere behauptet, nur loslassen zu müssen, und eine weitere fordert, mit denken gleich ganz aufzuhören. Das klingt wirklich fein, hat aber mit dem Leben ziemlich wenig zu tun. Oder lässt sich etwa auch nur ein Baum finden, der bloß seinen ungeliebten Jahresring loslassen muss, um groß und stark zu werden? Aber von lebensgeschichtlichen Ereignissen der Menschen, wird so etwas gefordert. Einfach nur loslassen ... also mit denken auzuhören.
Und nur positiv zu denken, ist, ganz abgesehen von dessen Unmöglichkeit, schlicht mit dem Leben unvereinbar und ziemlich starker Dogmatismus, der vielen religiösen Zumutungen nahe kommt, von denen sich womöglich gerade versucht wurde, zu befreien. Nur positiv denken, führt mit großer Wahrscheinlichkeit zu Gewalt und Fanatismus ... oder seelisch-körperlicher Selbstzerstörung. Das positives Denken selbst neutrales Denken ausschließt, Mathematik zum Beispiel, wird gar nicht erst bedacht.
Ich weiß, das sind harte Aussagen. Aber weshalb nicht? Ich will gar kein sanftmütiger Positivdenker sein, sondern mich drängt danach, die Welt mit meinen Sinnen wahrzunehmen, anstatt sie ideologisch oder religiös oder alternativ einzufärben.

Es gibt Wahrheiten und eine davon ist, dass Begriffe unterschiedlich gedeutet werden können, auch ganz und gar negativ. Ein solcher Begriff ist der des Zweifels. 
Gerade in alternativen Bewegungen ist es gang und gäbe, den Zweifel als generell schlecht zu betrachten. Sie scheuen ihn, wie der Teufel das Weihwasser. Das mag an tiefen Ahnungen liegen, dass womöglich ihr Glaube doch nicht so unerschütterlich ist, wie sie ihn gerne hätten. Was übrigens auch für viele religiöse Fanatiker zutrifft, frei nach dem Motto: Lieber den Anderen umbringen, als den eigenen Glauben kritisch zu hinterfragen.
Manche „Alternative" behaupten beispielsweise gern, Geld im Universum bestellen zu können. Dabei übersehen sie offenbar, dass Geld kein Naturwesen ist, sondern menschlich geschaffene und greifbare Form des Werts. Aber sie werfen es munter in den gleichen „Topf“, der Leben hervor bringt, Vögel in die Lüfte erheben und uns Menschen über die Erde gehen lässt.
Nun, dahinter verbirgt sich häufig eine ziemlich fadenscheinige Begründung für eigensüchtigen Erfolg in der alltäglichen Konkurrenz. Aber solches zuzugeben, würde wieder nicht mit dem geforderten Positivdenken zusammen passen. So was aber auch.

Zweifel kann hingegen auch eine wunderbare Kraft sein, dumme Überzeugungen, Glaubensvorstellungen und Gewissheiten auf Wahrheit zu überprüfen. Mit Zweifel kann der eigene, neue Weg betrachtet werden, um mögliche „Rückfälle“ in alte, untauglich gewordene Verhaltensmuster zu erkennen. Zweifel ist ein wunderbarer Anzeiger, wenn Glauben sich gar zu sehr als absolute Wahrheit spreizt. 

So ist es doch erstaunlich, wie bar jedes Zweifels schlimme Krankheitsdiagnosen unerschütterlich geglaubt werden. Manchmal gar so felsenfest, dass der Tod womöglich erst dadurch herbeigerufen wird. Der Arzt sagt: „Du hast noch sechs Wochen!“, und prompt stirbt der Verurteilte in dieser Zeit. Hier könnte ein gutes Maß an Zweifel womöglich Menschenleben retten helfen.

Mit einer anderen Nachricht, zum Beispiel: „Du bist jetzt krebsfrei!“ sieht das mitunter ganz anders aus. Diese Aussage, selbst wenn sie vom gleichen Arzt käme, wird trotzdem ziemlich häufig in Zweifel gezogen.

Weshalb ist das nur so? Weshalb wird nicht das Negative leichter bezweifelt? Weshalb bezweifeln so viele Menschen, gut und talentiert und einmalig zu sein? Aber weshalb bezweifeln so wenige Menschen ihren Glauben, schlecht, wertlos, untalentiert und durchschnittlich zu sein?
Dafür muss es Gründe geben!

Womöglich liegen einige darin, dass nur solche Menschen beherrschbar sind, die sich selbst bezweifeln? Womöglich liegen darin die Gründe der Kirchen, von grundsätzlicher Sündhaftigkeit der Menschen zu schwafeln, weil diese dann besser gängelbar sind?
Und wer glaubt, nur das Verstümmeln seines eigenen Körpers könne ihm das Leben retten, ist sicherlich ein guter Beitrag, damit so manches Krankenhaus profitabel wirtschaften kann. 

Zweifel kann ein gutes Werkzeug sein, sich zu überprüfen. Generelle Selbstzweifel können aber das Gegenteil bewirken. Zweifel an einer Medizin, die Verstümmelung als Heilung ausgibt, kann Gesundheit und Leben bewahren helfen. Zweifel an die eigenen Selbstheilungskräfte können sinnvoll sein, um sich nicht in irgendwelchem Wunderglauben zu verlieren, können aber auch zur gänzlichen Selbstaufgabe führen.
Gerade bei diesen Aussagen zeigt sich, dass der Zweifel auch ein gesundes Maß an kritischem Denken erfordert UND, anhand offener Natur- und Lebensbetrachtungen zu begreifen, was sein kann und was nun wirklich nicht.

Als einzig und allein für wahr gehaltene Glaubensvorstellungen locken regelrecht den Zweifel an. Und je fanatischer an solchem absoluten Glauben festgehalten wird, umso hartnäckiger nörgelt der Zweifel. Wird dann nicht auf ihn gehört sondern er verteufelt und unterdrückt, müssen natürlich alle die Menschen, Gedanken und Gegebenheiten unbarmherzig bekämpft werden, die diese vermeintlich unerschütterlichen Glaubenswahrheiten erschüttern können.

Dafür gibt es genügend Beispiele in Vergangenheit und Gegenwart. Man lese nur einmal die schauerlichen Angstergüsse Martin Luthers, wie zum Beispiel mit den „Weisen Frauen“ umzugehen sei. 

Also lassen wir Zweifel lieber zu, als dass wir verzweifeln.