Eine Gute-Nacht-Geschichte
Tellerchen auf Abwegen
Aus: Hendrik Heidler, Das rote Drachenei - Geschichten mit Känguru Mauzi, traumvat-Verlag am Scheibenberg
„Wie mag es sich wohl anfühlen, eine Tasse zu sein“, fragte sich der Teller und lag auf einem Tisch.
„Du spinnst doch“, riefen die anderen. „Du hast eine schöne Form und am Rand fröhliche rote Pünktchen. Außerdem schmückt Dich der rote Strich rundherum wirklich gut.“
„Ach“, meinte der, „ich bin nur neugierig.“
„Das ist ein Grund“, meinten seine Brüder und rieten ihm, sich in das Land zu begeben, wo Teller und Tassen auf Bäumen wüchsen. Dorthin, wo sie einst geboren wurden. Außerdem wohne dort in einem dicken knorrigen Baum ein alter Mann, ein Weiser. Der habe sicherlich einen passenden Zauberspruch in seiner Hosentasche. Den müsse er nur fragen, dann würde er schon sehen, wie das als Tasse sei.
Frohen Mutes rollte unser neugieriger Teller vom Tisch. Bloß gut, der Fußboden war mit weichem Teppich belegt, sonst wäre er wohl in tausend Stücke zersprungen. Durch die offenstehende Tür führt ihn sein Weg zu einer steinernen Treppe, die ihm zu gefährlich erschien. Fast endete seine Reise schon hier aber glücklicherweise kam ein Mädchen mit roten Haaren fröhlich heraufgestürmt.
„Du, Mädchen, bring mich auf die Straße“, bettelte er.
Das lachte und wollte wissen, wohin sein Weg ihn führe. Eine Tasse wolle er werden und wissen, wie das ist, Tasse zu sein. Das ist ein Grund, nickte sie verstehend und trug ihn vors Haus.
Quak-quak
Lustig ließ er sich die Luft um den Rand pfeifen, bis er in einem Fluss landete. Erschrocken vom Plumpsen flüchtete ein dicker Frosch und versteckte sich hinter einer Wurzel. Nach einiger Zeit lunzte er hervor und sah den Teller tief unten liegen. Ach, weinte der bittere Tränen, weil er glaubte, die Reise sei nun schon zu Ende.
Seine Tränen aber, die sah niemand. Die wischte ihm das Flüsschen tröstend vom Gesicht. Nur das Wasser, das am dicken Frosch vorbeiströmte, das schmeckte ein bisschen salzig und auch ein bisschen traurig. Verdutzt nahm sich der Frosch ein Herz und schwamm zu ihm. Der Teller lächelte ein bisschen schief, schöpfte ein bisschen Hoffnung und erzählte von seiner Geschichte.
Wahrlich, bestätigte der Frosch, solche Reisenden lob ich mir, die wissen wollen, wie es als Tasse sei und wies den Weg zum Meer. Der Teller zuckte nur mit seinem Rand. „Von allein komme ich nicht weiter“, sollte das heißen. Quakend begriff der Grüne, öffnete sein riesiges Maul und schwamm mit dem Teller bis ans Meer. Dort war‘s dem Frosch aber nun wirklich viel zu salzig. Darum legte er ihn am Strand in den Sand, wünschte viel Glück und weg war er.
Rausch-rausch
Wie das so ist, am Strand gibt es immer was zu entdecken. Wer schon einmal an der Ostsee war weiß, wie viele Menschen mit krummen Rücken nach unten blickend laufen, um irgendwelche Schätze zu finden. Bärensteine, Donnerkeile, Faustkeile, schöne Muscheln und was weiß man nicht alles. Und nach Schätzen suchen auch Möwen. Dafür verstellen sich oft, als fingen sie nur Fische. In Wirklichkeit hoffen sie dabei, ein feines Stückchen Bernstein oder gar eine goldene Perle zu finden. Heißt es doch im Volke der Möwen: „Wer die findet, dem fliegen die Fische von allein ins Maul.“ So stellen sich Möwen ihr Schlaraffenland vor.
Zurück zum Tellerchen, der den Möwen nicht entgangen war. Eine besonders Große segelte beherzt zu ihm und kreischte laut wie ein Dampfer, was er hier wolle. Fast wäre er davon zersprungen. Wieder erzählte er seine Geschichte, und von seinem Wunsch eine Tasse sein zu wollen.
„Das ist ein Grund“, schrie sie und weil sie so groß und sehr kräftig war, konnte sie ihn mit ihrem Schnabel hoch in die Lüfte tragen. So erfuhr das Tellerchen nicht nur, wie es im breiten Maul eines Frosches ist, sondern auch im Schnabel eine Möwe.
Wo Teller und Tassen wachsen
Nach schwindelerregendem Flug fanden sie die Insel seiner Geburt. Sofort erkannte er sie. Zu Tränen gerührt verabschiedete er den stolzen Vogel und rollte sich ins Land der beschriebenen Bäume. An denen wuchsen tatsächlich Teller und Tassen in allen Formen und Farben. Auch unterschiedlich reif waren sie. Am Boden lagen sogar einige Scherben, man hatte vergessen, sie zu ernten. Es stimmte also, dachte der Teller, die Geschichten vom Klapperstorch sind alle nur erlogen und auch die, wir Teller und Tassen würden in Fabriken hergestellt. Tatsächlich wachsen wir auf Bäumen!
Dort angekommen, sprach er freudig erregt all die Geschirrstücke an, selbst Suppenschüsseln waren zu sehen. Doch alle schwiegen. Sie waren noch zu grün, konnten längst nicht sprechen. Nur ganz weit hinten, an einem warmen, sonnigen Ort, schimmerte eine Tasse ein bisschen heller. Leider konnte der Teller nichts von deren Gebrabbel verstehen, es war eine Babytasse.
Trotzdem rollte er frohen Mutes weiter. Schon von weitem erkannte er den alten knorrigen Baum mit der Höhle und dem Bart, der aus dem Eingang hing.
Der weise Mann saß da und hatte seine Augen geschlossen. Aber er hatte schon längst mitbekommen, wer da auf ihn zurollte. Plötzlich nahm er ihn hoch, legte den Teller auf seine Beine und packte allerlei Essen darauf.
Ehrfürchtig schwieg der Teller. Er traute sich nicht, den großen, alten Mann zu stören.
So kam es auch am nächsten Tag, am übernächsten und auch die nächsten vierzig Tage. Der Alte aß schweigend und der Teller schwieg ebenso ehrfürchtig. Irgendwie gefiel ihm das. Bereits am frühen Morgen kribbelte es, wenn der Alte nach ihm langte.
Nach einhundert Tagen war er glücklich. Er hatte ganz vergessen, weshalb er den Weisen überhaupt aufgesucht habe.
Dem war das nicht entgangen, und so brach der Alte erstmals sein Schweigen und fragte mit warmer Stimme nach dem Grund seines Kommens. Der Teller war erstaunt. „Welchen Grund?“, entgegnete er. Er habe keinen Grund.
Der Weise lächelte, legte eine Brot auf den Teller und aß in Ruhe weiter.