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Wo bleibt die Liebe?

Die Aufgabe von Menschlichkeit

geschrieben am 02.04.2020 von Hendrik Heidler, Scheibenberg

Wo bleibt die Liebe?
Die Aufgabe von Menschlichkeit

Von Hendrik Heidler

Vorab sei darauf hingewiesen, dass die Gefahren übertragbarer Mikroorganismen, die auf heruntergefahrene Immunsysteme treffen, absolut nicht beschönigt werden sollen, sehr wohl aber Ansichten und Maßnahmen kritisiert, die alles noch verschlimmern.

Jetzt mal ganz unabhängig davon, ob ein Virus pathogen (krankheitserzeugend) wirken kann oder nicht, das Problem von Erkrankungen liegt auf einer völlig anderen Ebene: der Frage nach dem allgemeinen (sozialen und individuellen) Zustand der gegenwärtigen Menschheit. Der ungeschminkte Blick darauf lässt feststellen, dass die Entfremdung der Menschen von ihren natürlichen und sozialen Grundlagen ein nie da gewesenes Ausmaß erreicht hat. Einfach ausgedrückt, Einsamkeit, Konkurrenz und lebensfeindliche Einwirkungen (Industrienahrung, Pestizide, Antibiotika usw.) prägen eine Lebensweise, die sich dem Krieg gegen Menschlichkeit und dem Leben an sich zur zweiten Natur gemacht hat. Als sei es die natürlichste Sache der Welt wird alles, was irgendwie anders erscheint, im Wege steht, aufmuckt, widerspricht, unbekannt ist, bekriegt. Ohne Zweifel gehört der seit vielen Jahrzehnten verinnerlichte Krieg gegen die unserer heutigen Wahrnehmung nach so fremden Welt der Mikroorganismen an vorderster Stelle dazu. Es ist alltägliche Gewissheit fast der gesamten Menschheit, dass hier die Menschen sind und dort die „schrecklichen Keime“. Auf diesem unerschütterlichen Dogma der Neuzeit, insbesondere der tragenden Säule der Moderne, der naturwissenschaftlich legitimierten klinischen Medizin, ruhen viele alltägliche Verhaltensweisen. So, wie einst der Glaube an böse Hexen, finstere Dämonen und wollüstige Teufel kein wahlfreier Glaube war, sondern allgemeine Gewissheit, ist es heute mit den feindlichen Mikroben. Diese absolute Selbstverständlichkeit duldet keine Abweichung und ist auch dann Grundlage für individuelles und staatliches Handeln, wenn deren irrationale Abträglichkeit offen vor aller Augen liegt. Was nicht sein darf, kann nicht sein. Und so wundert es nicht, wenn abweichende Ansichten, ganz gleich wie fundiert und praktisch nachvollziehbar sie auch sein mögen, mit absoluter Gewissheit der vorherrschenden Weltsicht – freilich im sachlichen Ton – beiseite gewischt werden. Wer anders denkt und wahrnimmt läuft zunehmend Gefahr, ausgegrenzt zu werden, wenn nicht im Zuge der weiteren sozialen Degeneration schlimmeres zu erleben.

Die gegenwärtig vorangetriebene und offenbar von vielen der Gesellschaftsmitglieder begrüßte Entmenschlichung (verniedlichend und positiviert: Sozial Distancing) birgt die Gefahr in sich, völlig aus dem Ruder zu laufen, sprich dem Menschen sein Menschsein zu entziehen. Von der gedanklichen zur praktischen Enthemmung ist es nur noch ein kleiner Schritt und es fragt sich, ob die Schwelle zur Unmenschlichkeit mit den derzeitigen Regelungen, eben alle sozialen, sprich menschlichen Verhaltens- und Eigenheiten „herunterzufahren“ nicht bereits überschritten ist. Es sei erinnert, dass der Mensch nur Mensch sein kann, wenn er sozial ist. Doch das Gegenteil wird jetzt in Vollendung den Kindern eingepflanzt mit Folgen, an denen sie vermutlich ein Leben lang kranken werden. Ein Alptraum wird verwirklicht: „Freiwillig“ vereinsamte Menschen hinter Bildschirmen und in sterilisierten Räumen. Der absolut vereinzelte Mensch verliert seine Menschlichkeit und wird zu einem Nicht-Menschen, schlicht ausgedrückt zum unbewussten Unmenschen – ganz automatisch und ohne es sich einzugestehen, wird er damit konfrontiert. Rein individuell betrachtet und in kleinem Umfeld handeln viele sicherlich menschlich, was nicht in Frage gestellt werden soll. Ganz im Gegenteil darf festgestellt werden, dass trotz jahrhundertelanger Trimmung auf Konkurrenzverhalten, dennoch viele, viele Menschen ihre Menschlichkeit so weit als möglich bewahrt haben. Davor ziehe ich meinen Hut. Aber als  Teil dieses Systems wird jeder unfreiwillig zum Unmenschen, ob er es will oder nicht (ein menschlicher Grund genug, es endlich loszuwerden). Das alles klingt verrückt und ist es auch, wird jedoch verständlich, wenn das „geheiligte“ Grundprinzip der Konkurrenz unsentimental und inhaltlich betrachtet wird, was es tatsächlich ist: Erfolg auf der einen Seite erfordert zwangsläufig Verlierer auf der anderen Seite. Jeder versteht, dass dieser Zusammenhang absolut untrennbar ist, wie die zwei Seiten einer Waage. Alle anderslautenden Aussagen sind „schöner“ Schleim, weshalb Verlierer gern auch als „selber Schuld“ verleumdet werden. Aber dabei braucht dieses unselige System Verlierer wie die Luft zum Atmen. Verlierer haben die doppelte „Arschkarte“ gezogen, eben als Verlierer und Verhöhnte gleichermaßen. Dieser unbewusst automatisierte Unmensch kennt bei Gefahr keine Bedenken mehr, sein eigenes, funktionales Sein auf Kosten anderer radikal zu erhalten, freilich menschlich verbrämt. Aber wo dieser „schöne“ Schein gar nicht mehr aufrecht erhalten werden kann, reißt er mitunter so viel wie möglich andere mit ins Verderben oder gar in den Tod. Amok als Ausnahme, Hunger und Elend als bisher in die Ferne ausgelagerter Alltag, sich aber jetzt auch hier offen und ungeschminkt zeigend. Gesehen werden will es dennoch nicht. Das alles ist übrigens keine Übertreibung sondern lässt sich seit langem gerade anhand der machtausübenden Funktionseliten in Geschichte und Gegenwart beobachten und kommt besonders in der derzeitigen Systemkrise brachial zum Vorschein … befördert mit den propagierten und angeordneten, recht irrationalen Maßnahmen, so maximal wie möglich, sich zu vereinzeln. Ein weiterer Höhepunkt der Konkurrenz, der nun die letzten Restbestände menschlichen Miteinanders in die Luft sprengt … als notwendig akzeptiert, ja, bejubelt von der großen, automatisierten Mehrheit. Unbewusstes Funktionieren wird als Höhepunkt persönlicher Freiheit bejubelt. Was für erschreckendes Armutszeugnis des aufgeklärten Bürgers. Die Krise dieser irrationale Daseinsweise kann offenbar nur noch irrationale Gedanken und Maßnahmen hervorbringen.

Was bei alldem übersehen wird, ist die bisherige kapitalistische Durchsetzungs- und Entwicklungsgeschichte, die eben alles Menschliche umwälzte und auf den Kopf stellte. Das was menschlich ist, wurde zum Problem und das Unmenschliche nunmehr als Grundlage für Erfolg und Existenzsicherung gemacht. Geiz ist geil, Völlerei eine Zierde und Erfolg auf Kosten anderer die Krönung menschlichen Daseins. So konnte es nicht ausbleiben, dass die Natur ebenfalls zu einem Feind degradiert wurde, der sich der moderne Mensch nunmehr gegenübersah. Dieses verinnerlichte Selbstverständnis bildet jetzt die Grundlage, weshalb die Mehrheit der Menschheit willig bereit ist, ja, sie begrüßt, ihre letzten sozialen Bindungen aufzugeben. Hier im Erzgebirge wird die „heilige“ Weihnachtszeit entwertet, indem vor Ostern die lichttragenden Schwibbögen an die Fenster gestellt werden. Angeblich um Hoffnung gegen die Heerscharen der angreifenden Mikroben zu spenden, tatsächlich als Ausdruck der verinnerlichten Entfremdung, in deren Ergebnis nunmehr sogar diktatorische Herrschaftsmaßnahmen mit feuchten Augen willkommen geheißen werden. Das ist unter anderem nur möglich, weil das moderne Bewusstsein eines ist, welches im Augenblick lebt und jede Vorgeschichte ignoriert. Würde es sich nur ein wenig erinnern, würde es eine erstaunliche Entwicklung wahrnehmen, die zur aktuellen Situation führte.

Selbst angenommen, die Viren hätten nichts anderes im Sinn, uns zu vernichten, würde ihnen das trotzdem niemals gelingen, lebten wir soweit als möglich im Einklang mit unseren natürlichen und sozialen Grundlagen. Denn in diesem Falle käme unser Immunsystem spielend mit solchen Zwergen zurecht, schlicht, weil es sich seit unserem Menschsein damit auskennt, selbst neuartig entstandene Mikroben zügig erkennt und damit umzugehen lernt. Aber so ist es längst nicht mehr. Fast kann verallgemeinert werden, dass die Geschichte der Moderne bis heute nichts unversucht gelassen hat und lässt, unser Immunsystem maximal zu schwächen – selbst und gerade dann, wenn es einer Stärkung bedürfte. Lieblose Entscheidungen zugunsten eines lieblosen Systems – derzeit live erlebbar. Davon sind alle betroffen, einer mehr, andere weniger, jedoch ohne Ausnahmen, weil alle Teil dieses Weltsystems sind.

Nachdem also die gewöhnliche, immunschwächend-kapitalistische Lebensweise mit ihren Merkmalen von Einsamkeit und Entfremdung zum Wohle der Konkurrenz ganz praktisch das menschliche Immunsystem durcheinander gebracht hat – wozu das dieser Lebensweise entsprechende Gesundheitssystem samt zugrundeliegendem Wissenschaftsmodell entscheidendes beitrug – fällt nunmehr (konsequenterweise) nichts anderes mehr ein, als genau diese Gründe ins Extreme zu steigern: die Unterdrückung des Immunsystems und die absolute Zerstörung der natürlichen Wurzeln und existenziell erforderlichen sozialen Wesensmerkmale des Menschen. Dem Rest an Menschlichkeit soll es den Rest gegeben. Und wofür? Um den unmenschlichen, wirtschaftlichen Selbstzweck der Geldvermehrung mit allen Mitteln zu erhalten, obwohl, sinnbildlich gesprochen, die „intensivmedizinischen Geräte“ als sinnlos längst abgeschaltet werden sollten. Herrschaftliche Gewalt und finanzielle Zwänge haben noch nie Gesundheit bewirken können, liebevolle Zuwendung aber sehr wohl.

Erschreckenderweise begreifen wir die Zusammenhänge als kapitalisierte Menschheit (vielleicht) erst dann, dass wir nur als Menschen in Menschlichkeit Heilung finden können, wenn wir mehrheitlich beginnen, jeder für sich allein unmenschlich zu verrecken. Offenbar aber wird es ganz im Sinne der vereinzelnden Konkurrenz als menschlich angesehen, ältere, todkranke Menschen in raumanzugähnliche Hüllen zu stecken und ihnen die tröstende Hand zugunsten leidensverlängernder Maschinen zu verweigern. Und dabei käme es vielen Sterbenden womöglich weniger auf ein, zwei Wochen verlängerndes Leiden an als vielmehr auf menschliche Wärme und Beistand in ihren schweren Stunden des Abschieds. Zur Erinnerung: Wir sind erst in Gemeinschaft zu Menschen geworden und können es auch nur gemeinsam bleiben. Wir sind in einem Meer von Mikroorganismen zu Menschen geworden und können nur in ständigem Austausch mit ihnen heil werden und bleiben.

Diese ausgeblendete Vorgeschichte der Schwächung des menschlichen Immunsystem samt der umweltlichen Zerstörungen bzw. Vergiftungen lässt nicht verwundern, wenn es nun zu schwerwiegenden und zahlreichen Komplikationen bis zum Tode kommt, wenn z. B. Viren auf längst vorhandene, immunologische Freiräume treffen und diese ausfüllen … mehr braucht dazu nicht gesagt zu werden.

PS:

Soziale Distanz wirkt als Zucht von Unmenschlichkeit und Krankheit, von der wir derzeit noch nicht wissen, wie tief wir uns darin verlieren werden bzw. ob wir aus diesem Schrecken wieder herausfinden können, also ob wir die Liebe wieder finden (wollen).
Ich hoffe es dennoch, weil sich mit diesen Maßnahmen ja die herangereifte Schwäche dieses unmenschlichen Systems verrät und weil die ungewollte Wahrheit in den Zwangspausen des Hamsterrades sichtbar wird, wie menschlich wir eigentlich ohne es leben könnten.

Hendrik Heidler©, Scheibenberg, 2. April 2020

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