Fotografiert von Hendrik Heidler

„Pass auf, der süße Apfel ist vergiftet!“

Eine Schneewittchengeschichte

geschrieben am 22.01.2020 von Hendrik Heidler, Scheibenberg

Von Hendrik Heidler

Natürlich liebte ich als Kind Märchen, und heute noch lasse ich mich von ihnen über die Schwelle in nichtalltägliche Wirklichkeiten tragen. Schamanisches Reisen gelingen leichter, mit bekannten, in unserer Kultur verwurzelten Geschichten. Märchen berühren Kinderherzen ebenso wie sie Schätze an Weisheit so vieler Generationen in sich bergen. Wer erinnert sich nicht an die anschaulichen Bilder im „Kalte Herz“, welches davon berichtet wohin es führt, wenn Geiz und Gier und „über andere kommen wollen“ den inhalt des Lebens ausmacht? Der aktuelle Bezug auf die inzwischen zu Tugenden umgebogenen Laster unserer heutigen Lebensweise ist unverkennbar, ja, hochaktuell. Oder der irrige Glaube, die Prozesse des Lebens planvoll und leistungsorientiert mittels Arbeit in den Griff bekommen zu können? Im Märchen der Schneekönigin heißt es sinngemäß, wie Kai in deren Palast mit großem Ernst, und schon ganz grün und blau vor Kälte versucht, die Eisbrocken zu seinem Erlösungswort zu fügen. Auf diese Weise gelingt es nicht aber durch Gertas Kuss wird er erlöst!

Als kleiner Junge fieberte ich mit Schneewittchen, drückte ihr die Daumen, die böse Königin zu erkennen, nicht auf sie hereinzufallen. Ich sah es ihr doch deutlich an, wie sie das arme Schneewittchen versuchte, zu täuschen. Natürlich gab das schöne Fräulein den Verlockungen ihrer unerkannten Stiefmutter nach. Ich konnte es damals nicht fassen. Heute verstehe ich es vielleicht etwas besser. Wie oft treten Verlockungen an einen heran, die gar nicht als solche wahrgenommen werden, schlicht, weil wir sie in unserem Leben alltäglich gewohnt sind. Unbewusst gehen wir ihnen, wie Schneewittchen der bösen Königin, auf den Leim, uns fehlt der Abstand, sie zu erkennen. Säßen wir im Publikum, wie ich damals im Puppenspiel, und könnten uns zuschauen, würden wir manche Verrücktheit unserer Lebensweise rasch erkennen.Verrücktheiten, die uns krank machen können, die wir mit Medikamenten und aufwändigen Therapien versuchen in den Griff zu bekommen, wo unsere Haltung zu uns und unserem Leben oft erstaunliche Verbesserungen bewirken würde. Weil wir jedoch das Verrückte für Normal halten, fehlen uns offenbar die Widerstandskräfte, uns vor deren Folgen zu schützen. Auch Schneewittchen glaubte womöglich ebenfalls, die Dinge im Griff zu haben, den Verlockungen der als Krämerin verkleideten Stiefmutter zu widerstehen. Wohl gerade deshalb aber verfiel sie den schönen, feilgebotenen Waren. Auch hier springt die Ähnlichkeit unserer heutigen Wirklichkeit ins Auge. Glauben nicht gerade wir mit unserer Technik, Wissenschaft und Kaltschnäuzigkeit alles im Griff zu haben, weshalb wir genau deshalb die Macht und die Gefährlichkeit unserer selbst erschaffenen Götzen nicht erkennen und ihnen willfährig dienen? Geld regiert die Welt, Technik soll das Klima retten, Arbeit und Konsum das Wachstum ohne Zweck und Ziel. Oberflächliche Symptombekämpfung allerorten und Projektionen auf vermeintlich Schuldige bzw. Schuldiges werden unhinterfragt im Großen wie im Individuellen ganz alltäglich gelebt.

Doch der Krieg gegen die Symptome (Verkehrung von Ursache und Wirkung) hilft nicht nur nicht weiter sondern verschlimmert meistens noch bis ins unerträgliche. Ängste mit Medikamenten zu verscheuchen, kann die Gründe für Ängste ebenso wenig vertreiben, wie noch mehr Windkrafträder für fragwürdige Energieanwendungen die ökologische Krise. Dennoch ist der Griff zu angstunterdrückenden Arzneien nahezu selbstverständlich, weil die Angst als Gegnerin gilt, wie auch der Klimawandel oder die Migranten oder oder oder. Aber die Angst erscheint wie ein Schutzengel, der uns und unser Leben behüten will. Erst wenn wir nicht auf ihn hören, wird er zu einem grausamen Racheengel. Ihm wird himmelangst um uns. Übrigens, kein Mensch käme auf die Idee, gegen Durst sich Tabletten verschreiben zu lassen. Dürstende trinken. Weshalb wird dann aber nicht auf die Angst gehört, diesem Durst unserer Seele nach Lebendigkeit?

Meistens lindert sich Angst bereits dann, wenn fest entschlossen und mit klarer Absicht hingeschaut wird, worauf Angst uns verweist. Angst hilft uns im Publikum zu sitzen, und die böse Königin zu erkennen.

Unser schwärzester blinder Fleck in unserem Geist scheint aus solcher Gewohnheit zu erwachsen, mit der wir Dinge tun, die wir für normal halten, tatsächlich aber krankmachende Verrücktheiten darstellen. Gerade von diesen zu lassen, sie gar zu ändern, fällt uns so schwer, weil sie uns so natürlich erscheinen. Wie Schneewittchen am Luxus des Königshofes gewohnt war, ja, existenziell offenbar damit identifiziert, ebenso wie wir mit Geld und Arbeit und Markt und Warenkonsum, als dass sie hätte in der ärmlichen Hütte der Zwerge darauf verzichten können. Sicherlich war sie ein herzensgutes Kind, kein bisschen überheblich, wenn auch als Königstochter ein wenig verwöhnt. So erlag sie, ohne es zu wollen der Macht der gewohnten Dinge und vergaß dabei die liebevolle Warnung der Zwerge. Offenbar schien ihr die Gefahr des Sterbens geringer, wenn sie der Versuchung nachgäbe als ohne diese schönen Waren der bösen Königin auskommen zu müssen.

Was für Ähnlichkeit zu unserer heutigen Lebensweise! Blind vor dem, was uns schadet. Oder gibt es doch noch in uns diesen kleinen Jungen, dieses kleine Mädchen, das fiebernd sieht und dem Schneewittchen laut  zuruft: „Pass auf, der süße Apfel ist vergiftet!“

Hendrik Heidler©, Scheibenberg, 20. Januar 2020

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