Gleichgültigkeit und Selbstwertmangel
Der Zusammenhang zwischen Gesellschaftskrise und Selbstwertverlust
geschrieben am 22.03.2019 von Hendrik Heidler, Scheibenberg
Grundaussage des Textes:
Aus menschlicher Lebenskraft wird mittels sinnfreier Arbeit Wert geschaffen +++ die Konkurrenz treibt zu technologischem Produktivitätsfortschritt, um am Markt mit billigeren Waren zu bestehen +++ dadurch fällt die Arbeit als Lebenskraftverwertung weg, was zur Entwertung des Werts von Waren und Menschen führt +++ der auf Arbeit und Wert beruhende Selbstwert verfällt folglich gemeinsam mit diesem auf Geldvermehrung beruhenden System … es ergibt sich Gleichgültigkeit gegenüber sich und der Welt und ist damit gesellschaftlich keine rein individuelle Willensentscheidung.
ENT-WERTUNG = GLEICH-GÜLTIGKEIT
Wir leben in einer, in geschichtlichen Prozessen hervorgebrachten also menschengemachten Lebensform, die auf Wertvermehrung ebenso beruht, wie der Ausgrenzung dessen, was nicht verwertbar ist.
In dieser Lebensform wird das Selbstbewusstsein erstaunlich ehrlich als Selbstwert bezeichnet, welches an Besitz bzw. Zugang zu finanziellen Werten gekoppelt ist.
Was geschieht aber mit uns heutigen, postmodernen Menschen, wenn diese äußerliche Prothese des Selbstbewusstseins verlustig geht? Viele, die eine solche Situation in ihrem Leben bereits einmal erlebten, wissen, was ich meine. Leider herrscht weitläufig die Meinung vor, diese Menschen seien selber Schuld daran. Damit wird recht leichtfertig über die eigentlichen Gründe hinweggegangen und die „Opfer“ zu den „Tätern“ gemacht. Das liegt in dem Tabu begründet nicht ansprechen, ja nicht einmal denken zu dürfen, dass die „schöne kapitalistische Maschine“ nicht für ewig existieren und niemals in eine schlussendliche Krise kommen könne. IST SIE ABER GEKOMMEN, weshalb auch das auf Selbstwert beruhende Selbstbewusstsein in die Krise geraten ist. Dieser entmenschlichende Zusammenhang liegt auf der Hand und dessen Folgen zeigen sich unter anderem solange unter anderem in Gleichgültigkeit, Entsinnlichung, Brutalisierung, Fremdenhass, Rassismus, Sexismus, „Herrschaft der (technisch) toten Dinge“, Selbstwertprothesen und Selbstwertmangel, wie kein grundlegender Bruch mit deren gesellschaftlichen Grundlagen vollzogen wird. Nun einige Ausführungen dazu:
Der Zusammenhang von Entwertung, Gleichgültigkeit und Selbstwertmangel
Es bedarf schon einer gehörigen Portion an Blindheit oder standhaften Wegschauens um den Verfall von Menschlichkeit nicht wahrzunehmen. Und nicht jeder ist Pessimist und Schwarzmaler, der die rasant voranschreitende Naturzerstörung benennt, die neben den notwendigen Folgen des wirtschaftlichen Wachstumszwanges besonders einer atemberaubender Gleichgültigkeit vieler Einzelner geschuldet sind. Diese sich selbst aus dem Zwang nach Verwertung und Wertschöpfung ergibt.
Fühlen sich Menschen selbst als wertloses, ersetzbares Rädchen in einem gleichgültig über sie hinwegwalzenden Weltsystem, muss es nicht wundern, wenn sich diese Gleichgültigkeit ihnen selbst gegenüber und auch zur Natur und anderen Menschen zeigt. Mehr noch, verfällt der Wert in Krisenprozessen – auf dem ja neben der Abspaltung von allem was im Wert nicht aufgeht und hauptsächlich Frauen zugewiesen ist wie Hausarbeit, Kindeserziehung, Zuwendung usw. – die gegenwärtige Gesellschaftlichkeit gründet, verfällt ebenfalls der Selbstwert der Einzelnen, was sich auffällig auch in Gleichgültigkeit als aktuelles Wesensmerkmal des individuellen Ausdrucks der Systemkrise allerorten zeigt. WERTVERLUST = GLEICHGÜLTIGKEIT.
Übrigens, das Frauen häufiger dazu „neigen“ sich unterzuordnen bzw. in Opferrollen zu fallen, also Selbstwert zu verlieren, hat im Wesentlichen nichts mit deren Genetik oder Veranlagung oder gar Geschlechtlichkeit zu tun, sondern gründet auf der vorstehend beschriebenen Abspaltungen solcher menschlichen Tätigkeiten wie emotionaler Zuwendung, Haushaltsführung, Geburt, Erziehung, Pflege, die sich jeglicher Verwertung bzw. Geldvermehrung entziehen. Diese, Frauen zugewiesenen Tätigkeiten und Eigenheiten gelten somit in der vorherrschenden wertorientierten Wirtschafts- und Daseinsweise als minderwertig.
Die nie wirklich vollendete Emanzipation der Frauen ist aus diesem Grund insgesamt keine Böswilligkeit bzw. Willensentscheidung sondern eine, sich aus dem gegenwärtigen Gesellschaftssystem sich ergebende. Emanzipation kann erst mit dem Bruch der dafür verantwortlichen Systemgrundlagen erreicht werden, will sie nicht im oberflächlichen Schein verharren.
Offenbart sich der zunehmende Wertverfall gesellschaftlich einerseits in Inflation, Überangeboten und Verbilligung von Waren, Verteuerung von Lebenshaltungskosten, Dienstleistungen und Produktionsüberkapazitäten bis hin zu Akademikerüberangeboten, zeigt er sich andererseits in der Gleichgültigkeit gegenüber dem menschlichen Leben und dem der Natur überhaupt. Siehe die täglichen Opfer im Krieg gegen den Terror, der Selbstmordattentate aber auch die Millionen sterbender Kinder – die für die Mehrwertproduktion schlicht nicht gebraucht werden und daher wertlos für dieses System sind. Siehe ebenfalls die Hungernden, die aus eben dem selben Grunde nicht gesättigt werden, weil sie wertlos für die Verwertung des Werts sind und es damit finanziell unrentabel ist, sie zu sättigen. Und das, obwohl alles genügend dafür da ist.
Individuell offenbart sich dieser Werteverfall in Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden und dem Schmerz anderer aber auch gegenüber den eigenen menschlichen Bedürfnissen und denen der Natur. Beispielsweise werden chemisch hervorgerufene Krebsleiden versucht durch weitere chemische Vergiftungen zu heilen. Ebenso werden einzelne Körperteile operativ entfernt, um weiterhin auf Arbeit funktionieren zu können. Auch wird für das eigene, finanzielle Überleben billigend in Kauf genommen, dass andere im Mittelmeer ertrinken.
Diese, aus menschlicher Sicht krassen und unmenschlichen, dennoch alltäglich gewohnt vollzogenen Verhaltensweisen lassen sich recht leicht erkennen. Eine andere Art von Gleichgültigkeit gegen die Natur und damit gegen uns selbst wird gar nicht mehr als solche wahrgenommen sondern gilt als selbstwertsteigend, als völlig selbstverständig und sinnvoll. Wie das Salzen gegen Schnee und Unkraut, wie das völlig ausufernde Loipen für bequemes Fitnesstraining in freier Umwelt. Die Natur als Bühne der Selbstberuhigung. Immer auf Linie, am Fließband, auf der Autobahn, mit dem Smartphone und in der gespurten Loipe. Freilich, sind die Maschinen einmal da, werden sie eingesetzt, von gleichgültig gewordenen Menschen, die sich das Selbstbewusstsein durch Selbstwert in einem geschichtlichen Prozess ersetzten, der nun durch den aktuell sich vollziehenden Entwertungsprozess seine Gültigkeit verliert und daher wertlos wird. Er verliert seine Tragfähigkeit, die sowieso schon immer nur eine äußerliche Prothese war.
Schließlich wird der gesamte Mensch vom gesellschaftlichen Entwertungsprozess durchdrungen, bis in seine Fingerspitzen und seiner sinnlichen Wahrnehmung. Er sieht nicht mehr die Zerstörung schöner Winterlandschaften sondern regt sich auf, wenn diese NICHT zu braunen Salzlaugen gemacht werden. Er sieht nicht mehr das Leiden und Sterben der Käferchen, Schmetterlinge und Singvögel infolge einer lebenszerstörerischen Chemielandwirtschaft, sondern hasst die Zecken, die zu nichts nütze seien, aber sich doch wegen des Ausrottungsfeldzuges gegen Heilkräuter, Insekten und Vögeln erst so massiv vermehren konnten. Zecken sind halt zäher als Feldlerchen.
Diese verinnerlichte und gewohnheitsmäßig vollzogene egozentrische Rücksichtslosigkeit setzt selbstverständlich Blind- und Gleichgültigkeit gegenüber den eigentlichen Ursachen und der eigenen Verantwortung als Teil der leiderzeugenden Gesellschaft voraus. Andernfalls wäre deren Unmenschlichkeit kaum auszuhalten. Menschen brauchen zumindest eine Illusion davon, menschlich zu sein. Selbst die grausamsten Verbrecher der Menschheitsgeschichte suchen sich irgendeine menschliche Begründung ihrer Verbrechen. Was einerseits beweist, das wohl alle Menschen zumindest eine Ahnung von Menschlichkeit haben und andererseits die eigene Entfremdung von Menschlichkeit verdrängt wird. Daraus folgt die allseits beobachtbare Hilflosigkeit wie auch Projektion auf das Fremde, das Andere, zumeist das Schwächere um kräftig draufzuschlagen. Gleichgültiges oder auch ängstliches Wegschauen kennt dabei sicherlich jeder.
Das sind barbarische Lösungsansätze, die natürlich keine sind. Ebensowenig können Lösungen einzelner Symptome helfen, wie reine Symptombehandlungen auch in der Medizin nie zu Heilungen führen werden. Wer beispielsweise ein einzelnes Unternehmen, einen einzelnen Politiker kritisiert, ohne das gesellschaftlich Ganze in Frage zu stellen, geht in die Irre und wird bald in Gleichgültigkeit landen oder im Hass auf einzelne Gruppen und Personen. Die Lösung kann nur in Mitmenschlichkeit liegen, das fremde Leid auch im eigenen und andersherum wahrzunehmen. Also jetzt angehen was möglich ist aber stets im Hinblick aufs Ganze, dass heißt in der angestrebten Beseitigung des ganzen ursächlichen Systems. Anders geht es nicht. Was wiederum eine radikale und absolut negative Kritik voraussetzt. Dazu gehört, die eigenen Sinne zu schärfen und selbst zuende denken, was medial und gewöhnlich im Oberflächlichen verharrt. Sinnbildlich gesprochen, durch unzählige Krusten entfremdender Gewissheiten hindurchfressen. Oft liegt im absolut Gewohnten, in gar scheinbar nebensächlichsten Gedanken- und Handlungsabläufen die festeste Bindung begründet. Dann glauben wir an Schicksal und fühlen uns hilflos und resignieren mangels Handlungsspielraum.
Das nennt sich Gleichgültigkeit, die ebenfalls mit Abstumpfung der eigenen sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit einhergeht. Den eigenen Sinnen wird nicht mehr getraut, ob einen etwas gut tut oder nicht. „Der Arzt hat gesagt … im Internet steht …“ Schlimmer noch, Fernsehen wird als Einschlafhilfe gebraucht und flimmert selbst während der Mahlzeiten, verstümmelte und aufgeschwemmte Leichen gemeinsam mit wohlschmeckenden XXL-Steaks, in unsere Körper und Seelen hinein. Schlimmer noch, wird schmatzend und fetttriefend mit Genugtuung festgestellt, dass diese schmutzigen Menschen doch nur wegen des Wohlstandes zu uns kommen wollen, den uns wegnehmen wollen. Ja, bleiben wir nicht eben deshalb hier? Und ist es wirklich nur unser Wohlstand oder wollen die hierher kommenden Menschen schlicht nur leben und überleben? Auf der einen Seite zu Weihnachten Mitgefühl mit durch Hunger dickbäuchigen Kindern andererseits sollen sie dort bleiben, wo sie sind. Das nennt sich Gleichgültigkeit gegenüber Andere. Der Haken dabei ist, dass wir als Menschen dennoch wissen, was Menschlichkeit ist und sich daher jeder, vom kleinsten bis zum größten Gauner befühlt, sein unmenschliches Verhalten zu begründen. Gerade diese Rechtfertigung, warum Flüchtlinge entmenschlicht werden müssen, verrät die eigene Unmenschlichkeit. Und wer gegenüber dem Leid Anderer gleichgültig wird, es gar noch rechtfertigt und seinen eigenen Wohlstand auf dem Schmerz und den Knochen anderer gründet, wird nie wirklich Mensch sein können und ganzheitlich heil sein. Die Gleichgültigkeit kann zwar beruhigen, eine Zeit lang, doch irgendwann wandelt sie sich in eigenes Leid … und die schwer Kranken in westlichen Kliniken sehen kaum noch anders aus, wie die aus Armut und Not heraus Leidenden in den Zusammenbruchsregionen der südlichen Länder. Die radioaktiv, chemisch und operativ „heilverstümmelten“ Patienten unterscheiden sich kaum noch von den Folteropfern dieser Länder – höchstens dass hier sich freiwillig der Folter unterzogen wird, im irrigen Glauben, durch Ertragen von Schmerz und Leiden doch noch Erlösung zu finden.
Es ist KEIN Wohlstand der auf Leid gründet, sondern letztlich der zu unrecht angeeignete Wert mittels der Konkurrenz. Und Wert ist letztlich aufgesaugtes und abgetötetes Leben. Lohnarbeit ist demzufolge Selbstmord auf Raten. Zuerst sterben die Träume, dann die Seele und zuletzt der Körper. Das ist der Preis für gleichgültiges Funktionieren auf Arbeit und in der Freizeit.
Aus dem gleichgültigen und sinnfreiem Mehrwertprinzip ergibt sich erst recht in dessen Endkrise der individuelle Verlust des eigenen Lebenssinns und damit die Gleichgültigkeit gegenüber Fremden und letztlich des eigenen Lebens. Wer das nicht glaubt, braucht sich nur seine eigene gewohnte Gleichgültigkeit gegenüber der Gefahr eines Atomkrieges, dem Zusammenbruch der Ökosysteme und des möglichen Todes infolge vergifteter und entwerteter Nahrungsmittel, bei Autounfällen oder folterähnlicher medizinischer Behandlungsmethoden betrachten.
Wenn aber etwas gleichgültig ist, gibt es keine Wertunterschiede mehr und die auf Verwertung beruhende gesellschaftlichen Reproduktion bzw. Beziehungen kommen zum Erliegen. Dann kommt jeder heutige Mensch selbst in die Krise seiner Menschlichkeit, weil diese bisher auf Werten beruht. Aus dieser, aus den gesellschaftlichen sich ergebenden individuellen Krise stellt sich die Frage absolut existenziell für die Gesellschaft wie für jeden Einzelnen:
Entweder Barbarei der Konkurrenz bis hin zum bitteren Ende oder Ausstieg aus Wert-, Selbstwert- und Mehrwertwahn, hin zum Leben und zur Wiederannahme menschlicher Wahrnehmungen und Handlungen.
Hendrik Heidler©, 07.02. bis 22.03.2019