Scheibenberger Winter – fotografiert von Hendrik Heidler©

Seelenwünsche

geschrieben am 13.12.2018 von Hendrik Heidler, Scheibenberg

Es schneite den gestrigen Tag und auch die Nacht. Freudig blickte ich am frühen Morgen aus dem Fenster, hoffend, wenigstens jetzt noch die Straßen voll von dieser weißen Pracht bestaunen zu können. Weit gefehlt. Die gläsernen, an den Straßenrand geschobenen Schneemassen vermittelten mir den Eindruck, es taue bereits wieder. Dieser stellte sich als unzutreffend heraus, nachdem ich hinaus ging, die frostige Kälte spürte und noch mehr nach Verlassen der umfassend gesalzenen Straßen und einen Waldweg betrat. Augenblicklich war ich im Winter angekommen. Und was für einer! Wie im Märchen. Sanft wiegende, mit hohen Schneehauben bedeckte Fichten. Stille! Im hohen Schnee verloren sich die brummenden Motoren von den schmutzigen Straßen her. Ein fröhlicher Vogelschwarm. Ein Eichhörnchen auf einem Zaun balancierend, ab und zu abrutschend und dennoch heiter wirkend. Die Schneehäubchen fielen nach unten. Und ich? Ich war ganz bei mir, völlig im Hier und Jetzt, in exakt dieser Jahreszeit. Keine Gedanken an etwas anderes, keine Eindrücke wie vordem noch, von tauendem Schnee, von Tauwetter oder Frühling gar. Ich fühlte mich Eins mit meiner Seele Wunsch, hier zu sein, bei mir und nicht überdehnt von angeblich unterschiedlichen Wettern und Jahreszeiten.

Wenig bis gar nicht beachtet werden die Auswirkungen solcher, so selbstverständlich gewordenen Einflussnahmen auf natürliche, jahreszeitlich bedingte Zustände wie die Verwandlung der Welt durch den Schnee. Freilich, Autos müssen fahren, Termine wollen eingehalten werden und Unfälle vermieden. Dafür werden die winterlichen Straßen zu frühlingshaften Flächen gezwungen. Es scheint nicht nur so, es gilt offensichtlich Sekunden herauszuholen, auch im Straßenverkehr damit die ganze Maschinerie läuft. Unsinnig schnell fahrende Kraftfahrzeuge machen einen Glauben, es gehe um das Leben selbst. Ein Widerspruch, wird doch offensichtlich eigenes und fremdes billigend in Kauf genommen. Womöglich weil sich sicher geglaubt wird als bediene man keine gefährliche Maschine sondern den Bildschirm eines PCs.

Aber was geschieht mit uns und unserer Seele, wenn sie sich im Winter weiß und doch mit den Sinneseindrücken ihr glauben gemacht wird, es taue, der Frühling stehe vor der Tür? Kann sie dann wirklich ganz bei Sinnen sein? Fühlt sie sich wirklich ganz hier, ganz gegenwärtig?
Mir scheint, ihr Wunsch hier zu sein, diese Erde mit allen Sinnen zu erleben, Lebendigkeit zu erfahren, wird mit dem genannten und unzähligen anderen, ähnlichen Umständen höchst missachtet. Anstatt über die Gründe nachzudenken, die diesen massenhaften Individualverkehr mit seinen gesalzenen Straßen nicht nur für sich selbst erfordern, sondern auch, um Termine nach Maschinentakt einzuhalten, um hin- und herfahrende LKW-Kolonnen am Rollen zu halten usw. Für ein unsinniges und unmöglich ewig zu verwirklichendes Wachstumsprinzip werden wir Menschen aus dem Hier und Jetzt gerissen, stampfen wir wie selbstverständlich durch salzige, schmutzig-braune Laugen, als befänden wir uns auf einen toten Planeten. Kaum noch möglich, Kinder auf Schlitten durch die Stadt zu ziehen. Versucht man es dennoch und kippen sie dabei einmal um, purzeln sie nicht in den Pulverschnee sondern in Salzmatsch. Und es gilt als zumutbar! Für was eigentlich? Sollte uns eine Daseins- und Wirtschaftsweise nicht beleben, erfüllen, natürliche und soziale Bedürfnisse befriedigen anstatt uns als Funktionierende aufzufressen und den Gürtel enger schnallen zu lassen? Ja, für was braucht man eine solche eigentlich, wenn sie nicht uns sondern wir ihr dienen? Nein, da kommt kein himmlischer Frieden mehr herunter und auch die Stille Nacht findet sich eigentlich nur noch in Kaufhallen plärrend. Der Heilige Abend als kurzfristige Selbsttäuschung?

Aber unserer Seele ist es gleichgültig, ob wir Termine einzuhalten haben, um irgendwelche massenhafte Warenproduktionen am Laufen zu halten. Sie kümmert sich nicht darum, inwiefern wir glauben, unsere Dörfer und Städte in Beton-, Asphalt- und Salzwüsten verwandeln zu müssen. An ihr geht es völlig vorbei, wenn wir uns dazu bereit gefunden haben, unser Leben nur dann erhalten zu können, indem wir dafür Lebendigkeit aufgeben, um diese in Geld verwandelt erneut einsetzen, um unser Leben zu sichern. Eine Idiotie ohne gleichen. Unsere Seele ist hier, weil sie hier sein will – ganz hier! Sie wünscht sich, im Winter zu sein, wenn Winter ist und sich nicht gleichzeitig im Winter zu wissen und doch wie im Frühling zu fühlen. Sie ist hier, um bei sich zu sein, ihre natürlichen Bedürfnisse erfüllt zu bekommen, ganz gleich ob wir Geld haben oder nicht – was kein Lob für Armut sein soll sondern Kritik toter Wertmaßstäbe. Unserer Seele ist es gleichgültig, was wir für eine Lebensweise pflegen, ob wir ein modernes Haus besitzen oder einen Düsenjet. Sie will hier sein und leben, mit allen Sinnen und menschlich, in Gemeinschaft, gütig, voller Lebenslust und träumen. Ja träumen will sie und genießen.

Funktionieren wir, ignorieren wir ihre Wünsche, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn das Leben beginnt, salzig zu schmecken, von unseren Tränen des Schmerzes, von Krankheit und Leid und Unerfülltsein eigener Sinnhaftigkeit. Sie will hier sein! Punkt! Und wir selbst haben einzeln UND gemeinschaftlich die Bedingungen dafür zu schaffen. Dann macht sie schon hier ihr Ding.

Erfüllen wir ihre Wünsche? Auch nach Schönheit weißer Winterwelten? Oder freuen wir uns, dass endlich Straßen und Wege gesalzen, damit wir durch die Welt hetzen, herausgerissen aus unserer Gegenwärtigkeit, auf toten und tötenden Salzflächen, schmutzig und braun und fluchend über das Gelumpe, was da vom Himmel kommt?

Vom Himmel hoch, da komm ich her … nehmen wir sie an, unserer himmlischen Seele Wünsche?


Hendrik Heidler, Scheibenberg, 12. Dezember 2018
 

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