Schafe am Scheibenberg – fotografiert von Hendrik Heidler©

„Mäh, mäh”, sprach das Schaf oder „Die deutsche Leidkultur“

Eine heitere Geschichte erzählt von Hendrik Heidler

geschrieben am 21.11.2016 von Hendrik Heidler, Scheibenberg

War es Zufall? Ich kann es nicht sagen. Jedenfalls legte ich mich in sommerlich trockenes Gras und ließ es mir gut gehen. Das laue Lüftchen, die zirpenden Grillen, ich dämmerte vor mich hin. Da kitzelte mich etwas. Behutsam öffnete ich meine Augen, nur einen schmalen Spalt. Gerade so, um zwischen meinen Wimpern verschwommen die Äste eines großen Baumes über mir wahrzunehmen. Damit hatte ich gar nicht gerechnet, dachte ich doch, unter gänzlich freiem Himmel zu liegen. Nun war es eben so, wie es war. Die Lider fielen mir wieder zu. Da wurde ich von einem Rascheln erneut aufgeschreckt. Unbedacht riss ich meine Augen weit auf. Es blendete mich. Glücklicherweise warfen die welken Blätter des Baumes ihre verspielten Schatten auf mich, so gewöhnten sich die Pupillen schnell an die Helle des Tages.

Wie von allein suchten meine Augen nach dem Grund des raschelnden Geräuschs. Sie blieben an einer Flechte hängen. Keine große, eher wie ein Wollknäuel. Schön sah sie aus und an irgend etwas erinnerte sie mich. Angestrengt stierte ich auf sie, hoffte, mich dadurch besinnen zu können. Allein, das brauchte ich nicht, sah ich doch auf einmal, wie sich mir eine gemütliche Stube zeigte.

Atemlos betrachtete ich dieses Wunder. Eine Tür öffnete sich. Ein Mädchen, vielleicht auch schon eine junge Frau, ein Fräulein, wie es früher hieß, schlurfte gähnend in die Stube und blieb wie vom Donner gerührt stehen. Was ihr auch nicht zu verdenken war, lümmelte doch auf dem Sofa, direkt vor ihr ein dickwollenes Schaf. Frech blickte es die junge Frau an und machte: „Määääh!“
„Hä?“ Sie rieb sich die Augen, aber das Schaf verschwand nicht. Im Gegenteil. Es mähte noch eindringlicher.
„Was machst Du denn hier?“, fragte sie mit schwacher Stimme.
„Mäh, mäh, mäh“, antwortete das Schaf und gestikulierte wild mit seinen vier Beinen.
Allerdings verstand sie kein Wort. Offenbar ist es kein deutsches Schaf, überlegte sie. Schade. Überall liegen deutsche Tomaten, Gurken, Kürbisse und Rettiche herum und nun saß vor ihr ein fremdländisches Schaf.
Wieder machte es: „Mäh“, doch fügte es hinzu: „lümmeln.“
„Das seh ich auch“, entfuhr es ihr und erschrak. Sie musste jetzt sofort in die Schule, sonst würde sie zu spät kommen. Hastig schnappte sie sich Jacke, Schuhe und Ranzen und ließ das Schaf, wo es war.
Ungeduldig blickte sie ständig auf die Uhr. So verging der Unterricht fast überhaupt nicht. Irgendwann war er aber doch zu Ende. Eilig, sich nur flüchtig von ihren Freundinnen verabschiedend, stürmte sie heim.
Das Schaf war weg! Zuerst glaubte sie, doch nur geträumt zu haben, wenn da, ja, wenn da nicht nur das Sofa fürchterlich nach Schaf gerochen hätte, sondern auch noch, zu allem Elend, sogar etwas bohnenförmiges, schwarz glänzendes, hier und da verstreut, herum gelegen hätte.
„Das Schwein, dieses Schaf“, entfuhr es ihr. Erschrocken hielt sie sich die Hand vor dem Mund, ob dieses schlechten Wortes. Zum Glück, schien es niemand gehört zu haben.
Am nächsten Morgen war es wieder da.
So vergingen die Tage und immer wieder lümmelte das Schaf auf dem Sofa, es mähte und sie fragte ebenso häufig, woher es stamme. Aber jedesmal kam sie gerade soweit, bis das Schaf begann, auf deutsch zu sagen: „Lümmeln.“ Offenbar beherrschte es nur dies einzige Wort.
Darüber empörte sie sich fürchterlich: „Wenn schon ein ausländisches Schaf auf meinem Sofa lümmelt, dann hat es bitte schön auch in meiner Sprache zu sprechen und meine Sitten und Gebräuche zu beachten.“
Also rief sie zuerst in der Ausländerbehörde an. Die gaben ihr den Tipp, es doch einmal mit der Volkshochschule versuchen.  Dort gäbe es wunderbare Eingliederungskurse, um eventuell faule, trickserische Zuwanderer gut in Beschäftigung zu bringen. Auf ihre Bedenken hin, dass es sich nicht nur um einen „normalen“ Ausländer handele, sondern dazu auch noch um ein Schaf, ließ die Behörde nicht gelten. Unklar sei nur, ob für das Schaf doppelte Bezüge geltend gemacht werden könnten, schließlich habe es ja vier Beine und nicht nur zwei. Die Behörde versprach es prüfen, was jedoch bei dem Andrang allein von Zweibeinern durchaus einige Jahre dauern dürfte. Dann wurde aufgelegt.
Seufzend rief sie in der Volkshochschule an und fragte, wie es um eine Kursteilnahme des Schafes stehe. Freudig bejahte diese ihren Wunsch und meinte, ein Kurs könne nun stattfinden, weil bisher gerade noch zwei Teilnehmer gefehlt hätten. Auf ihren Einwand hin, es handle sich doch nur um ein Schaf, erhielt sie die fröhliche Antwort, es zählten hierbei nur die Anzahl der Beine und nicht der Verstand. Nun gut, dachte sie, hier ist Bürokratie schon mal von Vorteil. Als sie sich dem Schaf wieder zuwandte, war es allerdings verschwunden. Dann eben morgen früh!
Nur kam am folgenden Morgen alles ganz anders, wie gedacht. Womöglich zur Erleichterung der Ausländerbehörde, doch zum Leidwesen der Volkshochschule. Und das war so:
Sie, die junge Frau trat in die Wohnstube. Es, das Schaf lümmelte NICHT auf dem Sofa, aber es war da. Es hockte zusammengekauert in der Sofaecke und fror gottserbärmlich. Und es war nackt. Kein einziges Wollfäserchen mehr, ratzeputzekahl war es geschoren. Sie schrie vor lachen. Das Schaf aber weinte erschütternd. Natürlich blieb das nicht ohne Folgen für sie, bei ihrem großen Herzen.
Augenblicklich stürmte sie in die Küche, zerrte goldgelbes Geschenkpapier hervor, solches samtweiches mit goldenen Fäden, und eilte zurück zum Sofa. Das Schaf hockte noch da. Gott sei Dank. Behutsam legte sie das Papier aus, schob das Schaf darauf und wickelte es ein. Gar nicht schlecht, dachte sie, fast wie einer der drei Heiligen Weisen aus dem Morgenlande. Das war'n ja auch Ausländer, sogar ein schwarzer sei dabei gewesen.
Nach und nach wärmte sich das Schaf auf. Das Zittern ebbte ab und dann begann es in bestem Hochdeutsch zu sprechen.
Entgegen der verbreiteten Mode anderen Menschen, zumal Ausländern gar nicht erst zuzuhören, lauschte die junge Frau gebannt seinem Bericht. Es habe geklingelt und dann, ohne auch nur „Herein!“ abzuwarten, sei ein Uniformierter in die Wohnung gedrungen und habe es augenblicklich geschoren. „Verschleierungsverbot!“, habe er dabei andauernd geschrien. Die junge Frau war davon schlicht erschüttert und ihr Widerstandsgeist war geweckt. Noch mehr wollte sie nun erfahren und es berichtete viel es, was sie leicht nachvollziehen konnte. Von einer schönen, saftigen Weide, war da die Rede und vielen verschiedenen Kräutlein, die es so gerne nasche und überhaupt von vielem anderen mehr. Aber dann seien riesige Maschinen gekommen, mit der gleichen Schrift versehen, wie sie das Schaf hier gesehen habe. Danach sei alles Grüne verdorrt gewesen. Um nicht Hungers zu sterben, habe es sich hierher aufgemacht.
Und weil die junge Frau auf einmal das Schaf gut verstehen konnte, wurden beide gute Freunde. Ihre unterschiedliche Herkunft spielte überhaupt keine Rolle mehr, bis, ja bis eines Tages ein seltsamer Brief im Briefkasten steckte. Ausländerbehörde stand darauf. Nichts Gutes ahnend, riss sie ihn auf und tatsächlich: Der Abschiebebescheid mangels Nachweis des Schafes, seinen Lebensunterhalt selbst erwirtschaften zu können. Es habe die Chance gehabt, als Übersetzer auf einer Agrargenossenschaft zu arbeiten, doch sei es offenbar unwillig, seinen Beitrag für die deutsche Volksgemeinschaft leisten zu wollen.

Aber wie das weiterging, ist eine ganz andere Geschichte.

Hendrik Heidler©Scheibenberg, 12. September 2016 

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