Foto: Lorena a.k.a. Loretahur, via Wikimedia Commons

Fortschritt oder Verfall

Gewissenskonflikt: „Mund halten“

geschrieben am 18.04.2024 von Hendrik Heidler, Scheibenberg

Fortschritt oder Verfall

Gewissenskonflikt: „Mund halten“

Von Hendrik Heidler

Seit Längerem beschäftigt mich die weitestgehend unhinterfragte Annahme, die Menschheit schreite unweigerlich stets voran und habe nunmehr, mit Windkrafträdern, 60 und mehr Geschlechtern und der Freude am Anzetteln von Kriegen – zumindest hier in Deutschland – bisher unerreichte Höhen der zivilisatorischen Entwicklung erreicht: FORTSCHRITT eben. Ach ja, ein weiteres Höchstentwicklungszeichen habe ich noch vergessen: die Meinungsfreiheit, der selben Meinung sein zu müssen, wie es atemberaubende Geistesgrößen in höchsten Führungspositionen vormachen. Dass Meinungsfreiheit erst Sinn macht, wenn eigene Meinungen vorhanden sind, soll dabei wohl ignoriert werden. Jedenfalls erinnerte mich eines unserer Kinder daran, wie frei wir doch inzwischen alle geworden sind, nämlich frei von der Leber weg NICHT mehr sagen zu können, was einen bewegt. Es erinnerte mich daran, indem es verkündete, ihm sei es egal, ob es nun in der Schule mit seiner Meinung zur Ukraine und überhaupt anecke, es sage, was es für richtig halte. Pasta!

Und schwups musste ich an meinen Vater denken, dass und weshalb er mir vor über 55 Jahren einen gutgemeinten Rat gab, der mich oft danach in Gewissenskonflikte brachte. Damals zum Schulanfang riet er mir, beim Schuldirektor sehr vorsichtig zu sein, er stelle nämlich politische Fangfragen. Ich solle besser die eigene Meinung, bzw. die meiner Eltern verschweigen. Und in einem solchen Gewissenskonflikt finden wir uns jetzt hierzulande als Eltern in Anbetracht der „enormen“ Meinungsfreiheit wieder – und ich fand mich vor das Problem gestellt, welches meinen Vater damals bewegte um mich und unsere Familie zu schützen. Wer hätte das so gedacht, wo sich doch inzwischen alles besonders fortschrittlich voran entwickelt haben solle. Natürlich wollte ich unser Kind nicht dazu bringen, seine Meinung zu verleugnen, aber eben auch nicht dazu, andauernd ins „Messer“ zu laufen. Ach, und wieder ist diese elende Gratwanderung nötig – ein weiterer Grund, die gesellschaftliche Wirklichkeit in Frage zu stellen und nach menschlichen Auswegen zu suchen, wie endlich Kinder und Eltern ungezwungen frei von diesen grausamen Gewissenskonflikten sein können. Wegschauen oder bloß positiv denken hilft dabei gar nicht. Also war mein Rat an mein Kind: wo es drauf ankommt und es Gefahr läuft, sich selbst zu verraten, sollte es zu sich und seiner Meinung stehen, aber wo es nicht so wichtig ist, bei Nebensächlichkeiten halt auch mal schweigen. Es soll sich nicht verbiegen müssen und auch nicht verleugnen, und doch soll es sich manchmal schützen. Sicher, es ist ein unangenehmer Kompromiss, aber wie momentan anders? Mit dem Kopf durch die Wand? (vergangen geglaubte Reflexe tauchen auf und verlangen nach neuer klärender Positionierung)

Dabei erinnere ich mich an ein eigenes Zurücknehmen, wodurch ich aus Angst nicht zu mir stand – was mich Jahrzehnte lang beschäftigte, bis ich endlich wieder zu mir fand: Es war 1973. In Chile wurde ein ähnlicher „Regime-Chance“ (Putsch) veranstaltet wie 2014 in der Ukraine. Natürlich wurde es damals hier in der DDR auch politisch ausgenutzt und in der Schule hing im Klassenzimmer 10 eine Wandtafel, an der Salvador Allende abgebildet war. Ich als 12-jähriger war zu allerlei Jungenstreichen aufgelegt und mit anderen Kindern habe ich sein Abbild mit Ohrringen und schwarze Zahnlücken bemalt. So richtig verstanden hatte ich das Geschehen in Chile nicht. Freilich, jetzt weiß ich, was für Grausamkeiten dort begangen wurden. Aber war es deshalb nötig, damals die Stasi in die Schule kommen zu lassen und 12-jährige im Lehrerzimmer zu verhören? Sicherlich nicht, man hätte es erklären und wenigsten von der Achtung vor den Ermordeten sprechen können. Ich log, eingeschüchtert von diesen übermächtigen Erwachsenen. Heute mögen die Methoden (vielleicht noch) anders sein, versteckter aber sicherlich ähnlich folgenreich und zerstörerisch wie damals – genauso, wie hinter diesen Machtdemonstrationen moralische Verwahrlosung, Schwäche und Angst zu finden sein dürften.

Umso mehr wird es Zeit, über tatsächlich (menschlichen) Fortschritt nachzudenken, damit Verfall nicht mehr als solcher vorgetäuscht werden kann – wie damals so heute.

Hendrik Heidler, am Scheibenberg, 16.04.2024

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