Insektensterben
Habe ich mich daran gewöhnt? – Teil 2
geschrieben am 19.01.2024 von Hendrik Heidler, Scheibenberg
Insektensterben
Habe ich mich daran gewöhnt? – Teil 2
Von Hendrik Heidler
Keine Frage, ich halte den Einsatz von Insektiziden, Pestiziden und sonstigen Tötungschemikalien für lebensfeindlich. Lebensmittel durch Massentötung von Leben zu gewinnen, scheint mir ein Widerspruch in sich zu sein und der falsche Weg, um Ernährungssicherheit zu schaffen. Also müssten andere Formen, vor dem Leben achtungsvollere gefunden werden. Freilich, fast automatisch sprudeln bei diesem Thema verschiedene Totschlagargumente heraus wie: „Anders geht es nicht, sonst würden die Ernten vernichtet.“ oder „Du willst doch auch nicht verhungern!“ Abgesehen davon, dass man auf diese Weise das Problem des Verhungerns bloß in die mehr oder weniger nahe Zukunft verschiebt – Insektensterben, unfruchtbare Böden durch Zerstörung der Mikroflora usw. – wird diese kurzsichtig-erzwingerische Nahrungsmittelproduktion als DIE einzig mögliche Variante behauptet, um alle Menschen ausreichend ernähren zu können. Das, weil das wesentliche Ziel nicht die menschliche Bedürfnisbefriedigung ist sondern allein die Schöpfung und Vermehrung toter Werte – selbst um den Preis der Zerstörung der Lebensgrundlagen von Mensch und Natur. Die Möglichkeit der Bedürfnisbefriedigung hängt dabei von der erfolgreichen und üppigen Gewinnschöpfung ab, der zufriedene Mensch ist deshalb nicht Ziel sondern Nebenprodukt und das auch nur, solange Gewinn sprudelt. Fällt die so genannte Mehrwertrate, muss eben trotz vorhandener Waren der Gürtel enger geschnallt werden. Weiterhin dient die Aussicht auf Bedürfnisbefriedigung bestenfalls als Köder, um diese Mühle am Laufen zu halten und sich dieser Zumutung als unausweichlich auszusetzen.
Natürlich unterliegen auch die Bauern den Zwängen dieses gesellschaftlichen Grundprinzips und müssen dem folgen, wenn sie wirtschaftlich überleben wollen. Weder einzelne Individuen noch Gruppen (wie z. B. die Bauern) können dem innerhalb des Systems entkommen. Weshalb es auch tendenziell keine individuelle Entscheidung ist, ob nun Pestizide eingesetzt werden oder nicht sondern ein konkurrenzbedingt-systemerhaltender Zwang – flankiert durch zunehmend enger gefasste gesetzliche Rahmenbedingungen, geschaffen von Politik und Großkonzernen, die tatsächlich genauso diesen Zwängen unterliegen, wie die „Kleinen“ aber an der anderen Seite der finanziellen Skala. Getrieben von Blindheit für ihr verherrlichtes System können sie offenbar keine andere Möglichkeit gesellschaftlichen Zusammenlebens denken und sind für dessen Erhalt bereit, letztlich die Menschheit in einem atomaren Inferno zu verbrennen – falls sie sie nicht vorher durch ihre gesetzgeberischen Entscheidungen chemisch vergiftet haben (Verlängerung Glyphosateinsatz um weitere Jahre).
Dass es tatsächlich mit Hilfe einer pestizidorientierten Landwirtschaft nicht um die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse geht, sondern um Mehrwert und Weltmarktexport auch auf Kosten verhungernder und darbender Menschen, kann anhand der im 12-Sekunden-Takt sterbenden Kinder in südlichen Erdgegenden leicht erkannt werden (falls gewollt). Was kein Problem einer fantasierten Verteilungsungerechtigkeit ist sondern des kapitalistischen Grundprinzips, sich mittels Konkurrenz ein so großes wie mögliches Stück vom Kuchen am Gesamtwert des Systems anzueignen. Jeder weiß, dass das überall und immer so in diesem System ist. Aber das ist peinlich im Zusammenhang mit den unzähligen, dafür geopferten Menschen zuzugeben. Anders und rein schnörkellos-betriebs- bzw. volkswirtschaftlich ausgedrückt: diese versterbenden bzw. verelendet-leidenden Menschen sind für das kapitalistische marktwirtschaftliche Weltsystem wertlos und die vorhandenen Nahrungsmittel mit den durchaus ebenso vorhandenen Transportkapazitäten dorthin zu schaffen also gerecht zu verteilen, würde das auf Konkurrenz und Gewinnstreben fußende System aushebeln, die Märkte zusammenbrechen lassen. Diese bedauernswerten Menschen sind für den Systemerhalt in Kauf genommene Opfer und keine überzähligen „Fresser“ oder „faule Hunde“, wie diese von Wohlhabenden so gern selbstrechtfertigend verleumdet. Klar, sich das einzugestehen würde den eigenen Anteil am verantwortlichen System schmerzhaft bewusst machen – was ja gut wäre, wenn das zur Absicht führte, ein solches absolut menschenverachtendes System überwinden zu wollen. Ein System, welches diese Opfer benötigt, um sich zu erhalten, dürfte doch eigentlich für jeden Menschen eine unerträgliche Zumutung darstellen.
Weshalb das nicht so ist, sondern sich im Gegenteil viele Menschen selbst als erhaltenswerter als andere betrachten, hat durchaus etwas mit Gewöhnung zu tun, aber auch mit dem existenzsichernden Konkurrenzprinzip dieses unseligen Systems zu tun, dem derzeit niemand innerhalb desselben ausweichen kann. Aber den Schluss zu ziehen, andere dürfen für das eigene Existenzrecht darben oder gar sterben, ist keine unausweichliche Notwendigkeit, wie beispielsweise Geld für Essen verdienen zu müssen. Solche egozentrischen Haltungen sind freie persönliche Entscheidungen und mussten erst durch den Kopf hindurch gehen. Ab da beginnt die Schuld an Anderen.
(Ziemlich verräterisch war der feige Versuch des Bundesfinanzministers während seiner Ansprache an die Bauern in Berlin, als er versuchte, die Sorgen der Bauern pauschal-verleumderisch ausnahmslos allen „faulen“ Bürgergeldempfängern in die Schuhe zu schieben anstatt mutig zu den Folgen seiner eigenen „faulen“ Entscheidungen zu stehen – teile und herrsche.)
Nichts mit Schuld hat zu tun, in dem überpersönlichen Konkurrenzprinzip sich zum Selbsterhalt durchzusetzen, weil die Alternative Armut, Hunger und letztlich Tod wäre. Das zu erkennen und dennoch einzusehen, allein nicht aus dieser Zwickmühle herauszukommen, führt durchaus dahingehend zu Gewissenskonflikten, weil es einen bewusst wird, unweigerlich und automatisch auf Kosten anderen sich durchgesetzt zu haben. Denn OHNE Verlierer kann es ja in einem solchen System keine Sieger geben, was auch heißt, dass die meisten Verlierer keine „faulen und unfähigen Säcke“ sind, sondern absolut notwendig für das Funktionieren dieses Systems gebraucht werden. Die Lösung aus diesem Gewissenskonflikt sehe ich nur in der Absicht, dieses System zu kritisieren und von Grund auf abzuschaffen. Anders könnte ich das Wissen um diese Zusammenhänge und auch meine Lebenssicherung auf Kosten anderen zu gewährleisten, nicht ertragen. Ich müsste mir entweder dieses System schön reden, mich besser als Andere betrachten, mein Gewissen mit Spenden beruhigen usw. (das ganze bekannte Wegschauprogramm eben) oder danach streben eine menschliche Gesellschaftsform anzustreben, wofür ich mich entschieden habe.
Dass die vorstehend beschriebenen Systemzwänge mehrheitlich schönfärbend weggedacht werden, verrät dennoch etwas sehr grundsätzliches und unauslöschlich im Menschen vorhandenes: Unmenschlichkeit eigentlich nicht auszuhalten und sich deshalb sogar der größte Schweinehund sein Gewissen zu beruhigen sucht bzw. zumindest sich nach Außen hin als menschlich sucht darzustellen. Sonst bräuchte es ja z. B. all diese politisch-medialen Aufwendungen nicht, um das System immer und immer wieder als bestes aller Zeiten zu rechtfertigen und, wie jetzt erlebbar, Krieg und Waffenlieferung als gut für den Frieden umzubiegen. Ohne dieses andauernde Rechtfertigungsbombardement würde es wohl nicht sehr lange dauern, bis immer mehr Menschen diese unsäglichen Zumutungen wie Schuppen von den Augen fielen … freilich auf Grund des Trägheitsgesetzes der Gewohnheit es dauern würde.
Und so komme ich zum Schluss und schlage den Bogen zum Anfang dieses Textes und zur Gewöhnung an die massenhafte Vernichtung von Insekten, sogar von jenen, die sich nicht an den Einsatz von Pestiziden wie Glyphosat gewöhnen wollen und können. Ich meine das völlig zur Normalität gewordene Zermantschen von Insekten auf unseren Autoscheiben während des Fahrens. Viele Glyphosatkritiker, wie auch ich, haben sich nicht nur daran gewöhnt, mit einem leichten Antippen der Wischanlage deren Leichenreste gedankenlos von der Scheibe zu wischen sondern nehmen sogar den Rückgang der einst großen Anzahl von deren Körpern auf den Fronten der Autos zum Anlass, den Glyphosateinsatz noch mehr zu kritisieren.
Ziemlich verrückter Widerspruch oder?
Was nichts anderes heißt, als dass alle Menschen ausnahmslos Teil dieses verrückten Systems sind und vor der Aufgabe stehen, sich dieser durchaus schmerzhaften Erkenntnis zu stellen und gemeinschaftlich dieses unselige System der wertschöpfenden Lebensverwertung beenden zu wollen. Aus meiner Sicht kann nur so aus dieser gemeinschaftlichen Schuld an sich selbst und Anderen samt aller Natur entkommen werden (mit „Schuld auch an sich selbst“ meine ich die Opferung eigener Lebenskraft und -zeit zur Verwandlung in tote Werte (Geld), was tatsächlich ein Vergehen am heiligen Wunder des Lebens darstellt).
PS 1 – Buchempfehlung:
Das lebensvernichtende Nahrungsmittelproduktion gar nicht sein müsste und dennoch genügend hergestellt werden könnte, zeigt unter anderem der Wissenschaftler Johann Zaller in seinem sehr lesenswerten Buch „Unser täglich Gift: Pestizide - die unterschätzte Gefahr Taschenbuch – 12. März 2018“ auf. Er zeigt auf, dass in praktischen Vergleichstudien zwischen chemischen Anbau und mechanischen Verfahren, kein wesentlicher Unterschied bei den Ernten nachgewiesen wird. Somit gibt es systemische Gründe und keine ernährenden, weshalb die Welt vergiftet wird.
PS 2 – noch eine Bücherempfehlung:
Wir Menschen haben einzigartige Fähigkeiten, um andere Wesen und nicht nur Menschen verstehen zu können. Das sind u. a. Mit- und Einfühlen sowie Phantasie und Vorstellungskraft. Damit ist es durchaus möglich zu erahnen, wie sich ein Vogel im Flüge fühlt oder eine Ameise auf Gehsteigen zwischen unseren Beinen. Noch tiefergehende Möglichkeiten bestehen beispielsweise durch Bewusstseinserweiterungen (wie das „schamanische Reisen“), wodurch es gelingen kann, die Welt tatsächlich aus Sicht von nichtmenschlichen Lebewesen wahrzunehmen.
Eine sehr einfache, allen bekannte und gemütlich auf dem Sofa nutzbare Variante ist das Lesen. Dafür führe ich hier gern eine Trilogie an, bei deren Lesen sich eine völlig andere Perspektive der Welt zeigt und auf amüsante und spannende Weise aus Gewohnheiten des Denkens und Wahrnehmens lockt. Mich begeistert sehr die Phantasie und das Wissen des Autors!
- Bernard Werber:
Die Ameisen 1
Der Tag der Ameisen 2
Die Revolution der Ameisen 3
Gibt's auch als Sammelband:
Die Invasion
Hendrik Heidler, 19.01.2024